... newer stories
Freitag, 29. August 2008
das rote buch (i)
marcel diel, 01:26h

Hamburg, Zimmer in der Eppendorfer Landstr. 112, 19.05.02:
Nun also Hamburg, wo ich bisher noch nicht war, sieht man einmal von der Durchreise auf dem Weg nach Sylt ab, und auch jetzt nur für 2 Tage. Dabei war mir diese Stadt noch vor der gestrigen Ankunft am Abend, die sich aufgrund des enormen Verkehrs auf den Straßen (Innenstadt gesperrt wegen des "G-Day") und unserer geringen Ortskenntnis schwierig genug gestaltete, bereits ein wenig verleidet. Hamburg, das ist für mich der Ort, wo zunächst J. und nun, wenn auch nur für kurze Zeit, V. hinzogen, wo B. und ihr Ex-Freund glückliche und weniger glückliche Tage verbracht haben, ja, ich kann sagen: J.s Flucht, V.s plötzlicher, fast abschiedsloser Aufbruch nach Norden, B.s Erinnerungen (positiv gegen die Stadt, negativ gegen ihre damalige Beziehung) gestalten mein Verhältnis zu diesem Ort schwierig, haben es geprägt, bevor ich mir (wie bei Berlin) ein eigenes Bild davon machen
konnte. Nun bin ich gespannt, auch angespannt im Hinblick auf den morgigen (heutigen eigentlich, denn es ist tiefe Nacht nun, 245 Uhr) Tag. Und was mich doch zuversichtlich stimmt: der Abend bei V., seine Wohnung im Riemenschneiderstieg besichtigt zu haben (ein kleines Reihenhaus, das große Ähnlichkeit mit dem von Brecht in Buckow bewohnten aufweist, aber vielleicht auch nur für mich), das Zusammensein mit lieben Menschen (C., M. und A., mit denen ich diese Reise angetreten habe, J., die morgen zu uns stoßen wird), und nun der Ausblick aus dem Fenster auf einen zwar kargen, doch rege bewohnten Hinterhof und vom 4. Stock aus über die Dächer dieses Stadtteils hinweg. "Es ist Zeit / wirklich Zeit." C.s "Blumen"-Zeilen hämmern in meinem Kopf und hallen wider in den Gewölben meines maßlos verwirrten innerlichen Befindens. Seltsamerweise kein Drang, aus dem Fenster zu springen, wie damals auf dem Aussichtsturm über den Schlachtfeldern vor Verdun. Längst bin ich nicht versöhnt mit mir, die Unruhe im Gegenteil wächst

wieder, ist noch nicht Angst, nur Verwirrung und widerwärtiges Gedankenspiel, das sich seine körperlichen Symptome zusammensucht und dort ansiedelt, wo sie mich am stärksten verunsichern. Ein großes Ungewisses ist in mir. Ich sollte schreiben, sollte entspannen, vielleicht eine weitere Therapie anstreben – doch in Wahrheit flüchte ich in mir ständig vor mir, getrieben, gehetzt von der Unruhe, die nichts anderes ist als die gesteigerte Erwartung auf Erfüllung meines Lebens. Wenn ich all meine Freunde hier vor mir sehe, möchte ich mich in jedem Einzelnen von ihnen verkriechen, ihn umarmen, küssen, öffnen, hineinschlüpfen, mich in ihm auflösen, nur um mir selbst zu entkommen. Es ist noch immer nicht wirklich gut, zu sein – aber hier zu sein, ist gut, trotz oder gerade wegen der Aufregung, die auf äußere Dinge verweist, auf die ich mich einlassen sollte. Und doch meine ich, überall den Verfall ausfindig machen zu können, den ich in mir austrage. Bin ich mir selbst nicht gewachsen?
Will ich es überhaupt sein? Ich merke nur: je mehr ich zu flüchten versuche, desto schneller hole ich mich ein, versetze mich in Unruhe, übe mich im Versagen und erachte es gleichsam als innere Notwendigkeit. (Auch wenn ich weiß: Ich kann nicht verrückt werden, ist es doch dieser Gedanke, der mich am meisten ängstigt.) Ich sollte schreiben, doch fühle ich viel zu stark, dass ich nicht wirklich etwas zu sagen habe. Und auch diese Worte wollen nicht leicht geschrieben sein. Zugleich weiß ich: Auch wenn ich ziellos bin, so doch nicht hoffnungslos. Mir geht es gut, solange ich zu tun habe, mir Aufgaben stelle und erledige, unter Spannung stehe, die sich löst, sobald ich ein Teil meines Solls erfüllt habe, solange ich überzeugt davon bin, nützlich zu sein.
Nun häufen sich um mich die Probleme der Anderen: […] – und schon wieder kündigt sich Wechsel an: Leute, die fortgehen

werden in nicht allzu langer Zeit, die Lücken hinterlassen werden, zweifellos, und meine eher hilflose, wenn auch versucht bemühte Haltung dem allen gegenüber. Nehme ich es ihnen übel, dass sie sich aus meinem Lebensumfeld entfernen? Sie meinen ja nicht mich persönlich, sondern ihr eigenes Weiterkommen. Und wohin will ich? Was will ich aus mir machen, wie mich gestalten? Immer dieselben Fragen, ich weiß …
Nun Hamburg, eine kleine Zwischenstation. Laute Musik im Hinterhof, wohltuend gegen die allzu satte Stille. M. wird sie nicht ertragen können, sich Ohrstöpsel verpassen, C. vielleicht wie ich wachliegen und gen Fenster lauschen und im Halbschlaf lächeln.* A. und V., die sich leise streiten werden oder wortlos, gleichfalls schlaflos nebeneinander liegen und die Stille (eine andere freilich) genauso wenig vertragen. Etwas muss und etwas wird passieren. Und ich morgen auf den Spuren der "Absoluten Giganten".
M. D.
19.05.02 (315 h)
* Wie sehr ich mir wünschte, er würde herüberkommen, mit mir gemeinsam hier zu sitzen und zu lauschen!
Das »Rote Buch« war ein zwischen dem 14. Januar 1997 und dem 20. September 2003 unregelmäßig geführtes Tage- und Notizbuch, dessen Einträge ich hier künftig als Teil der »begehbaren welt« in willkürlicher Reihenfolge wiedergeben werde. Weitere Erläuterungen folgen mit der Zeit.
... link (0 Kommentare) ... comment
Donnerstag, 26. Juni 2008
toskanamente I
marcel diel, 12:16h
»M.D., 1975 im Westerwald geboren, lebt als freier Lektor und Autor in der Ost-Berliner Toskana (Treptow).«


das kruzifix hat seine eigene geschichte, sie wurde nur noch nicht geschrieben. links daneben mein lieblingsbild: »learning to fly« von Johan Potma, das, wie ich finde, das dasein als leser & lektor sehr treffend illustriert.

zum vergleich: vor eineinhalb jahren

hey, kids, where are you? nobody tells you what to do ...
... link (0 Kommentare) ... comment
Sonntag, 8. Juni 2008
nebelwolken
marcel diel, 02:01h
»Die für andere Menschen gewiß unglaublichen Schwierigkeiten, die ich beim Reden mit Menschen habe, haben darin ihren Grund, daß mein Denken oder besser mein Bewußtseinsinhalt ganz nebelhaft ist, daß ich darin, so weit es nur auf mich ankommt, ungestört und manchmal selbstzufrieden ruhe, daß aber ein menschliches Gespräch Zuspitzung, Festigung und dauernden Zusammenhang braucht, Dinge, die es in mir nicht gibt. In Nebelwolken wird niemand mit mir liegen wollen, und selbst wenn er das wollte, so kann ich den Nebel nicht aus der Stirn hervortreiben, zwischen zwei Menschen zergeht er und ist nichts.«
Franz Kafka: Tagebucheintrag vom 24. Januar 1915
... link
Dienstag, 8. April 2008
»April is the cruelest month ...«
marcel diel, 00:24h
Kein April ohne dieses große, beziehungsreiche, bedeutungsvolle Gedicht:
[T.S. Eliot liest »The Waste Land« :: Teil 1 :: Teil 2 :: Text mit Anmerkungen]
...
April is the cruelest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain.
Winter kept us warm, covering
Earth in forgetful snow, feeding
A little life with dried tubers.
Summer surprised us, coming over the Starnbergersee
With a shower of rain; we stopped in the colonnade,
And went on in sunlight, into the Hofgarten,
And drank coffee, and talked for an hour.
Bin gar keine Russin, stamm' aus Litauen, echt deutsch.
And when we were children, staying at the arch-duke's,
My cousin's, he took me out on a sled,
And I was frightened. He said, Marie,
Marie, hold on tight. And down we went.
In the mountains, there you feel free.
I read, much of the night, and go south in the winter.
What are the roots that clutch, what branches grow
Out of this stony rubbish? Son of man,
You cannot say, or guess, for you know only
A heap of broken images, where the sun beats,
And the dead tree gives no shelter, the cricket no relief,
And the dry stone no sound of water. Only
There is shadow under this red rock,
(Come in under the shadow of this red rock),
And I will show you something different from either
Your shadow at morning striding behind you
Or your shadow at evening rising to meet you;
I will show you fear in a handful of dust.
...
... link
Sonntag, 23. März 2008
In dem kühlen Grund
marcel diel, 17:41h
Du armer Hund!
Sitzt sturzbetrunken im Café und simulierst
Die Träume, die dein Leben nicht erfüllen wollte.
Scher dich nicht drum!
Denn irgendwer gibt schon die nächste Runde aus
In dem kühlen Grund
Im kühlen Wiesengrund
Dein stilles, tiefes Tal
grüß tausendmal
Und heul nicht rum!
Die nächste Flasche geht ja schon von Hand zu Hand
Kein Gast wurd je im Café Wundermild vergessen
Auf ex – und hopp!
Hier ist ein Wartesaal
In dem kühlen Grund
Im kühlen Wiesengrund
Dein stilles, tiefes Tal
grüß tausendmal
Jetzt schau dich um!
Da draußen haben Kinder in den Weiden
So blaue Bänder, Galgenstricklein, aufgehängt
Welch ein Idyll!
Die Katze döst am Dornstrauch unter Beeren
In dem kühlen Grund
Im kühlen Wiesengrund
Dein stilles Heimattal
grüß tausendmal
Sei nicht so dumm!
Ein Mühlrad geht im Kopf herum, doch immerhin
Die Liebste ist dir treu. Mach kein Geschrei
Geh lieber heim! Geh nie mehr in die Stadt!
Begrab dort deine Träume
In dem kühlen Grund
Dem kühlen Wiesengrund
Im allzu stillen Tal, so wie
schon tausendmal
Die Angst geht um! – Spürst dus?
Jetzt wirf die Flasche weg, nimm dein Gewehr
Ne Packung blaue Bohnen noch dazu
Und baller rum!
Zerklump das scheiß Klavier, wer braucht das hier!
In dem kühlen Grund
Dem kühlen Wiesengrund
Grüß zum letzten Mal
dein Jammertal
Und stumm! Häng hier nicht länger rum!
Die Träume hast du mit nem saubren letzten Schuss
durchs Dach erledigt. Brav.
Sprich dein Gebet, das Seil gut eingeseift / vergiss
das Fährgeld nicht! (unter der Zunge zu plazieren)
Dein letzter Gang
Durch den kühlen Grund
In den kühlen Grund
Verlass den Wartesaal
Dein tiefes Tal
Das Gedicht entstand zwischen dem 24. und 26. Januar 2004, inspiriert durch Texte der oben genannten und verlinkten Herren. Es ist Teil einer Reihe von freien Liedübertragungen, die Crauss und ich ein paar Jahre lang fast wettstreitartig angefertigt und unter dem gemeinsamen Titel »Gesprochene Lieder« zusammengetragen, teilweise auch bei Lesungen präsentiert haben.
Statt einer weiteren Erläuterung zum obigen Text hier ein Auszug aus einer Mail vom 22. November 2007:
Lieber P.,›Original‹ gefällig?
[...] Über Eichendorff schrieb ich vor Kurzem noch an einen Freund ein paar sehr herbstlastige Zeilen:»Du kennst doch dieses wunderbare Gedicht ›In einem kühlen Grunde‹ vom Taugenichts Eichendorff? Das ist mein Inbegriff der Melancholie. Rilke trägt da viel zu dick auf, überreizt die Tränendrüse gehörig. Aber Eichendorff hat uns, glaube ich, was zu sagen. Auch wenn es das ganze Inventar, seine Mühlen, Spielmänner, Reiter und blut'gen Schlachten so nicht mehr gibt – das Gefühl, das er beschreibt, diese Trauer über erlebte Enttäuschungen, dieses Seiner-selbst-überdrüssig-Sein, vor den eigenen Träumen zu verzagen und lieber sterben zu wollen, als die Ungewissheit des eigenen Willens und der eigenen Freiheit weiter ertragen zu müssen. In diesem kleinen Liedchen liegen, wenn man's genau betrachtet (aber seit ›Matrix‹ wissen wir ja, was mit den Dingen geschieht, wenn man sie genauer betrachtet – ›there is no spoon!‹), eineinhalb Jahrhunderte Geschichte begründet und begraben. Und kein Männergesangsverein schafft es, uns das zu zersingen.«
Das ist schon so. Immer wenn ich Rilke lese, schäme ich mich fast dafür, dass mich seine melancholischen Gedichte so tief berühren – weil sie mir geradezu darauf angelegt scheinen, feinen Fräuleins beim Nachmittagstee ein Seufzen zu entlocken, so stelle ich mir das jedenfalls vor. Diese heroische Einsamkeit, die aus vielen seiner Texte spricht, klebt.
Ganz anders bei Eichendorff, der es immer wieder schafft, mich zu überraschen. »In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad« – Idyll – »mein' Liebste ist verschwunden, die dort gewohnet hat« – Melancholie – »... Sie hat die Treu gebrochen, mein Ringlein sprang entzwei« – Trauer, und direkt daran anknüpfend die Frage: Was fängt man nun an mit seiner ungewollten neuen Freiheit? »als Spielmann reisen weit in die Welt hinaus«? »als Reiter fliegen wohl in die blut'ge Schlacht«? Jedenfalls: bloß schnell weg hier! Aber so einfach ist das nicht: »Hör' ich das Mühlrad gehen, ich weiß nicht, was ich will« – Zweifel, und dann: »ich möcht' am liebsten sterben, da wär's auf einmal still« – Das Idyll vom Anfang wird am Ende zum Anlass schierer Verzweiflung – André Heller fällt mir ein: »Misstraue der Idylle, sie ist ein Mörderstück. Schlägst du dich auf ihre Seite, schlägt sie dich zurück.« –, das Angenehme, Beruhigende birgt schon die Katastrophe, es wandelt sich ins genaue Gegenteil. Aber genauso ist das ja mit Gefühlen: Da mag der eigene Wille noch so frei sein, sie lassen sich von ihm nicht dirigieren. Da hilft auch alles heroische Denken und Sich-selbst-neu-Entwerfen nichts, der »kühle Grund« gerät zum Grab, die Idylle wird zum (Selbst-)Mörderstück (wie war das: »Gedichte reagieren auf Gedichte zurück«?).
[Tom Waits: Cold, Cold Ground (live 1987) :: direktwaitsen]
... link (0 Kommentare) ... comment
... older stories