Samstag, 27. September 2008
das rote buch (ii)
(Für R.)

 

Tagebucheintrag vom 9. April 1997, Seite 1 und 2 (Faksimile)

 

Parkbank auf der Poppelsdorfer Allee, unweit des Poppelsdorfer Schlosses, Bonn, 09.04.97:

Ich habe diesen Platz mit Absicht aufgesucht. Schon als ich das erste Mal hier war, kam mir der Gedanke, einen Text zu schreiben, was ich nicht tat. Jetzt ist es Abend, und der Platz hüllt sich in Abgeschiedenheit, abgesehen von den wenigen Spaziergängern und Joggern und gelegentlich vorbeifahrenden Autos. Die meisten Leute gehen zügigen Schrittes.
Ich weiß noch: als ich das erste Mal, am zweiten Tag meines Hierseins, angetrieben, die Gegend zu erkunden, hierher kam, wollte ich zunächst nicht an diesen Ort glauben. Ich war um eine Ecke gebogen, und mit einem Male war da dieser Teich, der sich wie ein stiller Fluß gebärdet, mit Enten und Fischen, und ich verfolgte

seinen vermeintlichen Lauf und gelangte an das Schloß, sah mich um und erblickte die lange Allee, an deren Ufer ich nun sitze, und sagte mir: "Dies ist ein Traum. Nichts davon wird morgen mehr da sein." Denn es erschien mir unbegreiflich, daß dieser Ort Wirklichkeit sein sollte, so nah bei meiner Wohnung gelegen, zumal ich zuvor doch den Stadtplan studiert und ihn nicht darauf zu finden vermeint hatte. So genoß ich den Augenblick des Hierseins im Gedanken daran, daß er unwiederbringlich sein würde, erfreute mich an der vermeintlichen Irrealität, schlenderte die Allee hinunter, jeden Baum eingehend studierend, mir jedes Einzelbild auf meinem Gange genau einprägend, um später einmal darüber schreiben zu können. Am nächsten Abend stellte ich fest, daß er noch vorhanden war, der Ort, was mich enorm beruhigte, allerdings auch die Einmaligkeit des Erlebten in Frage stellte.

 

Tagebucheintrag vom 9. April 1997, Seite 3 und 4 (Faksimile)

 

Nun denn, ich habe zurückgefunden.
Es verwundert mich, daß zu dieser dunklen Stunde Menschen sich Zeit & Muße nehmen, am Zaun um den Teich herum zu verharren und ihre Gedanken über das stille Wasser gleiten zu lassen. Manche schlendern, allein oder zu zweit, über die Brücke in den Park des Schlosses, der jetzt noch brach wirkt. Auf dem Rasen zwischen der Allee steht ein junger Mann und jongliert. Ein paar Passanten bleiben stehen und beobachten still, gehen weiter. Ohne die Autos wäre dieser Ort eine Idylle inmitten der Stadt. Viele Radfahrer sind unterwegs, nach Hause, vermute ich, während nun die Kälte der hereinbrechenden Nacht über den Platz schleicht.
Beim ersten Mal erinnerte mich dieser Ort an Paris, die Champs-Elysées vom Arc de Triomphe hinunter zum – wie auch immer der Platz heißen mochte. Ich war nahe daran, in meiner Seligkeit

einen der Vorbeigehenden anzuhalten und nach dem Namen des Pariser Platzes zu fragen – tat es jedoch nicht, wie ich so viele Dinge spontan nicht zu tun bereit bin. Manchmal wünschte ich – und gerade in dieser noch von Einsamkeit bestimmten Phase der Eingewöhnung –, ich hätte ein offeneres Naturell. Auch fröhlicher möchte ich sein. Ich möchte gemocht werden. Sicher, ich spreche mit vielen Leuten – aber nur mit solchen, die mich zuvor angesprochen haben. So gebe ich mir selbst kaum die Chance, bald aus dieser Einsamkeit ausbrechen zu können. Wie gerne würde ich es erleben wollen, daß einer der Passanten sich zu mir setzte, um sich mit mir zu unterhalten, und sei es auch nur über Belanglosigkeiten. Aber allein das Schreiben signalisiert Abweisung und Abwesenheit des damit Beschäftigten, wirkt vielleicht auch arrogant auf die Vorbeigehenden, von denen ich nicht einmal weiß, ob sie mich

 

Tagebucheintrag vom 9. April 1997, Seite 5 (Faksimile)

 

überhaupt wahrnehmen.
Wenn ich morgens auf dem Weg zur Uni den vielen Menschen begegne, die weder glücklich noch erfüllt wirken, möchte ich einige am liebsten anhalten und ihnen ein Lächeln ins Gesicht malen. Ein hoffnungsloser Traum. Ich könnte mit ihnen reden – wahrscheinlich würden sie abweisend reagieren oder mich unverständig anschauen aus ihren seltsam weiten Augen, Blicken, die den Betrachter selbst in die Leere (der Seele) hineinzustürzen scheinen. Möchte gar nicht wissen, auf wieviele derer, die mich bewusst wahrnehmen, ich denselben Eindruck mache …
Die Straßenlampen, die im Teich zu versinken scheinen, und die verschwommenen Spiegel der Häuser und Bäume im Wasser – wie symbolisch mir das erscheint für das Leben in den Städten! Auf dem Land ist es schlimmer: nicht einmal Spiegel! Ich werde an mich denken, wenn ich jetzt nach Hause, soz., gehe.

 

Zum 1. April 1997 zog ich nach Bonn um, schrieb mich ein, wartete auf ein neues Leben. Und bekam es.

 

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