Dienstag, 5. Oktober 2010
Tagebuch | 04.10.2010
das ungeheuer friedliche gemüt beim verlassen des büros. das erste mal seit wochen, dass ich mich nicht gehetzt fühle, sogar die blicke der fremden um mich herum aushalte, als ginge ich in eine aura aus selbstverständlichkeit gehüllt, ein unsichtbarer kokon gegen die brandung der gleichgültigkeit, die ich noch immer als anfeindung verstehe, als wüsste ich es nicht längst besser. als wäre ich nicht auch aus gerade diesem grunde hierher gezogen, den vermeintlichen schutz der anonymität zu genießen, der keiner ist, wenn man über all seinen minderwertigkeitskomplexen eben das genießen ständig vergisst, verdrängt, wenn man sich selbst nicht aushalten kann. ich hab das schreiben fast verlernt, merke ich, das pathos hingegen offensichtlich nicht. aber der frieden blieb. ich ging, allabendliches ritual, quer über das große feld im treptower park, im dunkeln, wie es mir am liebsten ist, keine seele um mich und in mir dieser friede, ich hätte schreien können vor lust. vielleicht, weil mit den anderen, die heute zur buchmesse aufgebrochen sind, auch ein teil des drucks, unter dem unsere produktion stattfindet, gewichen ist, denke ich jetzt. wirklich, ich arbeite gerne in diesem büro, mit diesen menschen, aber die letzten wochen haben kaum zeit zum verschnaufen gelassen, oft ging es bis zehn uhr abends oder noch länger, und selbst dabei ist vieles noch liegen geblieben, das ich nun in den nächsten tagen, wenn es bei uns ruhiger zugeht, weil die anderen und auch die meisten unserer kunden eben nicht da sind, endlich stück für stück abarbeiten kann. von der rückeroberung der wochenenden habe ich großmäulig gesprochen, wenn andere mich fragten, was mir der job denn im gegensatz zur freiberuflerexistenz ermögliche, aber noch immer gehören die wochenenden nicht mir, sind vollgepackt mit anderen arbeiten, und auch die haben sich angehäuft, weil auch der körper sich mal erholen will, und sei es nur durch ausschlafen, und der geist sich in bildern statt texten ergehen will, bewegten bildern folgend oder der spur des cursors von einer website zur nächsten, um scheinbar wahllos input zu sammeln oder sich einfach nur in den wind zu hängen, treiben zu lassen, ohne getrieben zu sein. erholung. wollte ich diesen sommer nicht mal an die ostsee fahren? hatte ich nicht vorgehabt, mir ein auto zu mieten für einen tag oder zwei und einfach rauszufahren ins umland, die stadt zu verlassen, andres zu sehen? nichts davon ist wahr geworden, obwohl ichs mir endlich leisten könnte. stattdessen wächst meine filmsammlung unaufhörlich, türmt sich das ungelesene, ungesehene, und braun geworden ist nur mein rechter unterarm, weil der schreibtisch direkt unterm fenster steht, hinter dem sich der sommer ereignet hat. dabei habe ich gar nicht das gefühl, meine zeit vertan zu haben, nur wünschte ich manchmal, ich hätte sie mit anderen dingen, anderen menschen auch verbracht. ich bin ja kein großer verreiser, dass paris mich locken will oder nizza kann ich gut aushalten, das niegesehene wien, selbst die ostsee, von der ich manchmal geträumt habe, erst recht die vergessene heimat, das rheinland. dass aber nicht mal der lange geplante sprung über den kanal geklappt hat, mein kreuzköllner lieblingslokal aufzusuchen (nächsten dienstag wird es mich wiedersehen, aber mit anlass), das wurmt mich und darf so nicht bleiben. und was mich noch wurmt: dass ich mir nicht die zeit nehme, mehr zu schreiben, und sei es nur sowas wie das hier. als hätte ich angst. doch nie war mir gerade dieses gefühl ferner als jetzt.

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