Samstag, 10. März 2012
bleibt alles anders
ein fundstück aus dem jahr 1998, als briefe noch collagen waren, geschrieben auf elektrischen schreibmaschinen und din a3, und ich noch ein ziel vor augen hatte:

brief vom 30.08.1998 (fragment)
brief aus E. an M. vom 30.08.1998 (fragment)
[anklicken zum vergrößern]

was übrigens gar nicht depressiv gemeint ist.

der text sirren der maschine, der hier erwähnt wird, ist unter anderem erschienen in der bonner zeitschrift dichtungsring (nr. 28/29) und später vom swr vertont worden.

»K.W.« ist natürlich der hier:

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Samstag, 25. Oktober 2008
wieder ein grund zur freude

 

Die Welt wird anders sein, wenn man sie mit den Augen von Franz Kafka gesehen hat.

 

soeben erschienen:

Franz Kafka: Erzählungen. Text, Kommentar und Materialien, hrsg. von Marcel Diel und Florian Radvan, Oldenbourg Schulbuchverlag, 2008

Franz Kafka: Erzählungen. Text, Kommentar und Materialien, hrsg. von Marcel Diel und Florian Radvan, Oldenbourg Schulbuchverlag, 2008

Franz Kafka: Erzählungen. Text, Kommentar und Materialien, hrsg. von Marcel Diel und Florian Radvan, Oldenbourg Schulbuchverlag, 2008

ja, der oldenbourg verlag, den meisten von uns sicherlich noch aus schulzeiten bekannt durch seine traditionsreihe »oldenbourg interpretationen«, macht jetzt auch in textausgaben, die schülergerecht mit wort- und sacherklärungen, autorenbiographie und materialien zum textverständnis versehen sind.

für diese neue reihe hat das bewährte duo Radvan–Diel eine repräsentative auswahl der erzählungen Franz Kafkas getroffen, an der sich hoffentlich generationen von oberstufenschülern erfreuen werden. das 312 seiten umfassende taschenbuch ist für taschengeldschonende 5,20 euro ab sofort im handel erhältlich.

näheres dazu auf der verlagsseite; das inhaltsverzeichnis und eine kleine leseprobe gibt es hier als pdf.

 

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Dienstag, 14. Oktober 2008
wie herr m. einmal einen kuchen backte

 

klick!

pfannenapfelkuchen – ein rezept für einen junggesellen und einen gasherd mit defekter backröhre, jetzt als fotoserie bei twitpic. einfach von unten rechts nach oben links durchklicken.

nachtrag (17|10|08): twitkrit, der perlentaucher der twittersphäre (wo die kleinen meldungen herkommen, die hier in der linken seitenleiste auftauchen), in personam Markus Trapp, lässt meinen bescheidenen back- und fotokünsten große ehre zuteil werden. herzlichen dank!

vielleicht sollte ich kochbücher schreiben ...

 

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Montag, 13. Oktober 2008
an seinem 33. geburtstag
le M., Berlin, 12.10.2008 (Foto: Rochus Wolff)
(Foto: Rochus Wolff)

 

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Dienstag, 2. September 2008
beschwert euch nicht über die jugend – bildet sie lieber!

 

zum beispiel damit:

Jugendbrockhaus Allgemeinbildung. Mit Texten von Dr. Bernd Flessner und Marcel Diel (Umschlag)

Jugendbrockhaus Allgemeinbildung. Mit Texten von Dr. Bernd Flessner und Marcel Diel (Titel)

soeben erschienen: ein prächtiges werk & zudem ein ideales geschenk für jugendliche ab 12 jahren, auch und gerade dann, wenn sie lieber eine »nintendo wii« oder ähnliches haben möchten. ;-)

 

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Donnerstag, 20. März 2008
unerhört!

 

eigentlich wollte ich zu dem folgenden noch was längeres schreiben, nur habe ich leider im moment einfach zu viel um die ohren. andererseits platze ich fast vor freude, und das schon seit mehreren tagen. warum?

darum:

C.F. Meyer: Das Amulett. Mit einem Kommentar von Marcel Diel und Florian Radvan. Suhrkamp BasisBibliothek, 2008

C.F. Meyer: Das Amulett. Mit einem Kommentar von Marcel Diel und Florian Radvan. Suhrkamp BasisBibliothek, 2008

C.F. Meyer: Das Amulett. Mit einem Kommentar von Marcel Diel und Florian Radvan. Suhrkamp BasisBibliothek, 2008

näheres dazu auf der verlagsseite: www.suhrkamp.de

vielleicht komme ich nach ostern dazu, mehr über die spannende arbeit an diesem buch zu berichten – dann aber vermutlich eher dort.

 

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Dienstag, 22. Januar 2008
ein gleiches (2)

 

Willkommen, liebe Zuschauer, zum Telekolleg Deutsch.

In unserer heutigen Folge wollen wir uns der Analyse eines zeitgenössischen Gedichtes zuwenden und dabei insbesondere dessen Struktur und dessen Entstehungsprozess beleuchten, der für uns als Leser ja im Normalfall nicht transparent ist. Nicht zuletzt deshalb wird vor allem die jüngere Lyrik oft entweder als unzugänglich oder aber als ihrem Inhalt und ihrer Form nach allzu schlicht wahrgenommen. Machen wir also die Probe aufs Exempel.

Das Gedicht, um das es uns gehen soll, heißt »Ein Gleiches« und erschien erstmals in Ausgabe 31 der Zeitschrift Dichtungsring aus dem Jahr 2002. Entstanden ist es, wie der Verfasser uns mitgeteilt hat, am 14. November 2001 und wurde vor Veröffentlichung noch einmal leicht überarbeitet.

Schon der Titel lässt uns aufhorchen, handelt es sich doch eindeutig um eine Anspielung auf jenes berühmte »Wandrers Nachtlied«, das Goethe 1780 in einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau geschrieben hat und das er, da es ein gleichnamiges Gedicht von ihm bereits gab, »Ein Gleiches« nannte:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Dieses Gedicht gehört zweifellos zu den bekanntesten der deutschen Sprache; wir dürfen also annehmen, dass der Verfasser unseres Beispieltextes nicht nur unbewusst Bezug darauf nimmt. Allerdings gibt es in jener Zeitschrift keinen Text dieses Herrn, der dem Gedicht vorausgehen würde und auf den sich der Titel folglich beziehen könnte. Damit erhebt sich die Frage: ein »Gleiches« von was?

Die Antwort weiß vielleicht das Motto, das dem Gedicht vorangestellt ist, ein Zitat aus einem Text von Nicolas Born:
In Berlin 1966

Die Luft geht uns nicht aus
wenn wir wandern wenn wir wandern
von Britz nach Alt-Gatow
von Tegel nach Old Eden.
     Kiefern und Birken interessieren uns nicht
     Fontane und Raabe lassen wir links liegen.
Von Epidemien befallen
sind wir immer noch gut zu Fuß, üben
den Gleichschritt und stolpern über Soldaten.
     Delegationen machen sich schwarz
     und werden als Mohren an Mauern geführt.
Auf Fotografien sehen wir uns lachen
in die Zukunft hinein und hinweg
über die Köpfe unserer verhüteten Kinder.
     Die Freude ist diesseits.
     Das Schmähliche leuchtet.
Der Wahrheiten müde loben wir wieder die Gärten
verlegen uns auf Mädchen und suchen Leute auf
die wir mögen.

Nicolas Born: Gedichte. Hrsg. von Peter Handke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990, S. 9.
Tatsächlich haben wir hier ebenfalls das Lied eines Wandrers vor uns, der sich allerdings nicht in der Betrachtung der Natur ergeht, sondern beinah wie mit Meilenstiefeln das ehemalige West-Berlin durchmisst. Beide weisen eine ähnliche Perspektivik auf: Das »du« bei Goethe und das »wir« bei Born richten sich sowohl an den Leser als auch an den (imaginären) Autor. Am Ende von Goethes Gedicht steht die Anerkenntnis der eigenen Endlichkeit, die immerhin noch den Trost birgt, in die Ruhe der Natur eingehen zu dürfen. Borns Gedicht hingegen, dessen Folie nicht die Natur, sondern die politische Situation seiner Zeit bildet, endet in bewusster Abkehr vom Wahrgenommenen: »Die Freude ist diesseits« und individuell gestaltbar, kein universales Ganzheitserlebnis wird in Aussicht gestellt.

Der Verdacht liegt nahe, dass unser Verfasser zu diesen beiden Wandergedichten ein drittes, eben »ein Gleiches« gesellen wollte – und in der Tat stützt der Text diese These. Lautet die erste Zeile bereits »So sind wir einmal gegangen«, finden sich Verben der Bewegung in jeder Strophe, wobei zu der physischen Bewegung – dem Spaziergang des lyrischen Ichs mit einem offenbar konkreten »Du«, das im Gegensatz zu den beiden anderen Gedichten weder den Leser noch den Autor miteinschließt – noch die Bewegung der Blicke, der Gedanken, der Worte (oder vielleicht besser: des Wortes) hinzutritt.

Wie nun hängen Titel, Motto und Widmung (ein anonym bleibender »C.«), die wir als Paratexte bezeichnen, mit dem eigentlichen Text des Gedichtes zusammen? Gibt es womöglich ein alles verbindendes, gemeinsames Thema?

Der Verfasser hat uns dankenswerterweise Material zur Verfügung gestellt, das uns dabei hilft, diese Frage zu klären, indem es nämlich das Verhältnis zwischen ihm und Born und dem bewidmeten C. erläutert. Es handelt sich dabei um einen Tagebucheintrag, der, wie wir gleich sehen werden, bereits fast die gesamte Motivik seines Gedichtes vorwegnimmt, und einen Brief, der unmittelbar nach Fertigstellung des Gedichtes entstand:
Tagebucheintrag vom 12.11.2001:

Beim Lesen des Nicolas B. eines andren gedenkend

Hier entdeckt der Jüngere die Spuren des Älteren im Wechselbild der Schrift, im Entwicklerbad entätzen sich Konturen niemals gemeinsam durchtanzter Nächte, selbst Gespräche im späten Abend waren selten, können an den Fingern der Hand besser abgezählt werden als an den Blättern der Bäume, die eh nur dem einen Schatten spendeten, während der andre sich in die Flure der Großstadt ergoss, sie tatsächlich ganz & gar auszufüllen vermochte, immer ein Blatt Papier gleich einer camera obscura zur Hand und stets den gespitzten Bleier am Ohr, im Strumpfband, im Hintern, je nach Befindlichkeit ...
[Nebenbei bemerkt, wird hier offensichtlich, dass es eine gute Entscheidung war, den Stoff nicht in solch schwülstiger Prosa zu belassen.]
Aus einem Brief an C. vom 21.11.2001:

[...] Kürzlich stieß ich beim Zappen auf eine dieser zeitlich so schwer einzuordnenden Telekolleg Deutsch-Sendungen zum Thema »Lyrik nach 45«, namentlich Bachmann, Grass, Sachs, Celan, Enzensberger, Fried, Brinkmann und ein paar andere. Und dann zitierten sie »einen der Jüngeren«, ich weiß nicht mehr, mit welchem Gedicht, aber ich notierte seinen Namen. Und als ich später im Netz nach ihm fahndete, stellte ich mit einiger Enttäuschung fest, dass dieser Jüngere bereits ein gewesener, ein wesender Zeitgenosse war. Nicolas Born also.

Aber welch eine Entdeckung! Für mich die Lyrikentdeckung des Jahres. Und schon beim flüchtigen Blättern im handkeedierten Suhrkamp-Bändchen der Verdacht einer Ähnlichkeit, einer Verwandtschaft Borns mit dem Nachgeborenen C. – da konnte ich Dir das Ding (ist doch eins!) nicht vorenthalten, die Gelegenheit war halt günstig. Und ein Gedicht kam auch bei raus, eine Pressgeburt, kopflastig, nicht eben leicht dahingesprochen. [...]
Wir sehen also: Unabhängig von der Thematik des Gedichtes gibt es tatsächlich ein Thema, das die paratextuellen Elemente mit dem Haupttext verbindet. Es lautet


Damit, liebe Zuschauer, verabschiede ich mich für heute von Ihnen. Und denken Sie daran: ...

Noch Fragen?

 

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Montag, 21. Januar 2008
eine frage der wahrnehmung

 

Warnung: Dieses Blog, liebe Leute, wird ein wilder Ritt durch alle meine Zeiten. Nur, dass ihr's wisst. — Der nachfolgende Text entstand im Mai 2007 (man sieht: manchmal hat es mich zwischendurch doch gepackt, das Schreibfieber) und erschien zuerst in einem anderen Blog, das für mich hauptsächlich der Sammlung kurioser Links diente. Das hat nun endgültig ausgedient.

 

im sommer letzten jahres traf ich Gott in mehlem. er stand wie ich am bahnsteig, und da er sah, dass ich rauchte, kam er auf mich zu und bat mich um feuer. ich gab es ihm, und nachdem er sich seine selbstgedrehte zigarette angezündet hatte, sah er mich an, hustete und deutete dabei auf meine reisetasche. »na, sind Sie schon auf der flucht?«, sagte er und fuhr fort, ohne eine antwort abzuwarten: »das ist gut, wissen Sie, ich habe nämlich beschlossen, das rheinland untergehen zu lassen.« sein mund qualmte dramatisch. »ja, der rhein wird sich über seine ufer erheben und dieses verdorbene land überschwemmen.« und wie zur entschuldigung setzte er hinzu: »von koblenz bis nach köln.« ich lächelte unsicher und versuchte, meine ratlosigkeit dadurch zu kaschieren, dass ich einen langen zug an meiner zigarette nahm, um anschließend den rauch betont langsam auszuatmen. jaja, dachte ich bei mir, wir wissen ja beide, dass zwischen koblenz und köln nicht nur bonn liegt, nicht wahr? er sah mich schweigend an, dann lächelte er. »lustig, dass Sie das erwähnen, da komme ich nämlich gerade her«, sagte er. »ähm …«, setzte ich an, aber er unterbrach mich: »das müssen Sie sich vorstellen« – er blickte an mir vorbei, als spräche er zu dem rauch, der zwischen uns aufstieg – »die haben mich einfach dort eingesperrt. die haben mir nicht geglaubt.« er hustete kurz. »nicht an mich geglaubt«, präzisierte er. »diese kleingeister. und meine freundin« – sein mund zitterte – »meine freundin sitzt da immer noch.« die zigarette entglitt seinen fingern und landete auf dem boden. »verbrecher«, schrie er plötzlich so laut, dass ich zusammenzuckte, »elendes pack.« seine stimme überschlug sich. »aber wartet. meine rache wird furchtbar werden. der fluss wird sich erheben. kein stein wird auf dem anderen bleiben.« wow, dachte ich, Gottes freundin. kein wunder, dass der sich so aufregt. seine grauen, wässrigen augen fixierten mich. mir wurde mulmig. was hatte ich doch gleich über den umgang mit verrückten gelesen? am besten defensiv verhalten, nicht auf sie eingehen, und vor allem keine widerworte geben, wenn sie sich in rage geredet haben. also schwieg ich und hielt mich betont lässig an meiner kippe fest, die schon fast bis zu den fingerspitzen abgebrannt war. »es ist schon gut«, sagte er mit einem mal so ruhig, dass es mir angst machte, wobei er den blick nicht von mir abwandte. »aber sehen Sie zu, dass Sie sich in sicherheit bringen. das hier ist verdorbenes land.« hustete kurz, drehte sich um und ging. ich seufzte erleichtert auf. ein paar schritte von mir entfernt raschelte eine zeitung, ich blickte auf. der mann, der sie hielt, sah mich abschätzig an, als wäre ich für den verrückten verantwortlich. als wäre ich selbst der verrückte. ich starrte zurück und grinste, so lange, bis er sich mit einem leisen grummeln wieder seiner morgenlektüre zuwandte. mich in sicherheit bringen, dachte ich. eigentlich keine schlechte idee. ich schnippte die zigarette ins gleisbett.

Gott sagt, ich soll aus bonn weggehen, simste ich einem freund von unterwegs. der zug war wie jeden freitagmorgen so voll, dass man in den gängen stehen musste, weil nicht einmal im bereich der türen noch ein platz frei war. als dicker mann mit reisetasche kam ich mir bei jedem halt wie ein hindernis vor, ein gefühl von minderwertigkeit, das ich in all den jahren nicht zu verdrängen gelernt hatte. gäbe es die möglichkeit der teleportation, ich wäre mit sicherheit ein begeisterter nutzer. wahrscheinlich, überlegte ich, würden sie für leute mit übergröße zuschläge erheben. andererseits gäbe es vermutlich sowas wie vielfliegerrabatte. und konkurrierende unternehmen, die sich gegenseitig im preis unterbieten, so wie heute in der stromversorgung oder im telefongeschäft. es gäbe business-tarife für pendler und öko-tarife für umweltbewusste, billigteleporter aus taiwan für den hausgebrauch mit gefälschten tüv-plaketten, und jede woche mindestens eine neue horrormeldung in der boulevardpresse: »teleporter defekt! mann in hund verwandelt!« – »schwupps, da war die oma weg!« – »der hightech-mörder: entsorgte er seine opfer via teleporter?« – »papst warnt: seele nicht teleportierbar!« es gäbe sekten, die »reinkarnation schon zu lebzeiten« anböten und auf diese weise »ewiges leben« garantieren könnten. und so etwas wie körpertourismus: »verbringen Sie drei wochen im körper einer frau!« – »wollten Sie schon immer wissen, wie man sich als baum fühlt?« ungeahnte möglichkeiten für psychotherapeuten und esoteriker aller art – und natürlich für die seriöse medizin: tumore z.b. könnten einfach »weggebeamt« werden. überflüssige pfunde natürlich auch. womit sich das problem der übergewichtigkeit elegant lösen ließe. und ich müsste keinen zuschlag zahlen. ich seufzte. schade, bislang dachte ich immer, ich sei ein zuspätgeborener. jetzt muss ich einsehen, dass das gegenteil der fall ist: ich bin zu früh geboren – um ein paar hundert jahre zu früh. die welt ist ungerecht und ich ein eskapist vor dem Herrn. mein handy piepte. ach!, simste der freund zurück. na prima, dachte ich, noch einer, der mich für verrückt hält.

ich kannte mal einen, der hielt sich zeitweise für einen engel, kam es mir in den sinn, als ich in koblenz stand und auf meinen bus wartete. eigentlich ist so eine psychose ja ein tragisches schicksal, aber immer, wenn ich diese geschichte zum besten gab, amüsierten sich die leute. Steffen, so hieß der gute, war ein unauffälliger typ, gesund bis dahin, kein künstler, hatte freunde, stammte aus gutbürgerlichen verhältnissen, nahm keine drogen, war mit sich selbst, soweit man das von außen beurteilen konnte, im reinen und hatte gerade sein zimmer im studentenwohnheim bezogen, da hörte er eines morgens im flur leise harfentöne. er ging dem geräusch nach bis zu einer tür, die einen spalt weit offen stand, und durch diesen spalt spähend sah er einen jungen mann, der auf einem bett saß und tatsächlich auf einer großen konzertharfe spielte. in diesem moment, erzählte mir Steffen, sei ihm plötzlich und unhinterfragbar klar gewesen, dass dieser junge mann ein engel sein müsse – und er selbst folglich, da er ihn ja wahrnahm, entweder tot, was für ihn jedoch zweifellos auszuschließen war, oder selbst ein engel, denn engel erkennen ihresgleichen auf anhieb. diese erkenntnis habe ihn so überwältigt, dass er die tür weit aufgestoßen habe und dem jungen mann mit einem freudigen »bruder!« um den hals gefallen sei. dass diese freude nicht eben erwidert wurde, kann man sich vorstellen, aber es dauerte eine ganze weile, bis Steffen selbst einsah, dass es eine dritte deutungsmöglichkeit gab, die er nicht in erwägung gezogen hatte: dass er verrückt sein könnte. bis er zu dieser erkenntnis gelangte, hatte ihn die andere jedoch beinahe das leben gekostet. tagelang hatte er nichts gegessen – engel brauchen ja keine nahrung –, nur still in seinem zimmer gehockt und weiterer himmlischer offenbarungen geharrt, die sich aufgrund seiner zunehmenden körperlichen entkräftung quasi zwangsläufig einstellten. bis ihn die freundlichen männer in den weißen kitteln abholten, war er in der hierarchie seiner neuen geistigen welt längst vom engel zum gottessohn aufgestiegen. den jungen mann mit der harfe gab es übrigens wirklich: er war musikstudent, und aus seiner sicht war der bizarre kommilitone, der ihn bei seinen morgendlichen etüden gestört hatte, kein verrückter, sondern einer, der wohl ein pfeifchen zu viel geraucht hatte. die erkenntnis, die er aus dem vorfall zog, war, nur noch bei geschlossener tür dem musikspiel zu frönen. es waren die eltern, die schließlich für Steffens einweisung sorgten.

es ist eben alles eine sache der wahrnehmung, dachte ich, während ich vor der bushaltestelle gemächlich auf- und abschritt, deshalb ist das wort »verrückt« eigentlich ganz zutreffend. es ist die wahrnehmung der welt und meiner selbst in der welt, die verrückt. aber auf der basis dieser wahrnehmung – und eine alternative dazu gibt es ja nicht, zumindest keine, die man frei wählen könnte – funktioniert alles nach logischen gesichtspunkten. Steffens wahrnehmung beruhte auf der prämisse, dass vor ihm ein engel saß – also musste er selbst ein engel sein. der mann in mehlem ging davon aus, dass er Gott ist – also steht es in seiner macht, das rheinland untergehen zu lassen. von koblenz bis nach köln zumindest. was passiert wohl, wenn er herausfindet, dass das mit dem rheinlanduntergehenlassen leichter gesagt als getan ist? seine welt fußt ja nunmal auf der prämisse, dass er Gott ist. wird er sich selbst in frage stellen? das hätte durchaus etwas charmantes – ein Gott, der sich selbst verneint. oder wird er sich schlicht darauf besinnen, dass er seine rolle als rachsüchtiger allvater eigentlich schon vor zweitausend jahren abgelegt und sich in das gewand des gutmütigen, nachsichtigen, christlichen Gottes gekleidet hat?

freilich gäbe es, überlegte ich, als ich im bus über die montabaurer höhe schaukelte, noch eine andere deutungsmöglichkeit. ich betrachte den mann aus mehlem als verrückten, da seine wahrnehmung der welt und seiner selbst eine andere ist als die meine, natürlich in dem bewusstsein, dass ich mich mit meiner einschätzung im stillschweigenden einverständnis mit der mehrheit, sagen wir mal, der weltbevölkerung befinde. aber was heißt das schon. ich neige ja auch dazu, mich selbst in bestimmten situationen als hindernis für andere wahrzunehmen, ohne auch nur einen dieser anderen zu fragen, ob er mich ebenfalls so wahrnimmt. und überhaupt: ist dieser minderwertigkeitskomplex nicht auch nur eine form von egozentrik, eines sich-selbst-zu-wichtig-nehmens? und dafür, dass meine selbstwahrnehmung nicht unbedingt mit der wahrnehmung meiner selbst durch andere übereinstimmt, gibt es ja zahlreiche beispiele. also ist die frage, wodurch mein selbstbild eigentlich gestützt wird. eine antwort darauf könnte lauten: in erster linie dadurch, wie ich selbst andere wahrnehme. wenn ich einen dicken mann mit reisetasche in einem engen gang stehen sehe, erscheint er mir als hindernis – aber das muss ja nicht auf die mehrheit der möglichen betrachter zutreffen. eine weitere antwort wäre: mein selbstbild wird gestützt durch meine eigene lebenserfahrung – dass ich also schon mal in ähnlichen zusammenhängen die erfahrung gemacht habe, von anderen z.b. als hindernis wahrgenommen worden zu sein, eben weil sie sich entsprechend geäußert haben (auch so ein schöner begriff: »sich äußern«) oder ich ihre äußerungen, ein aufstöhnen, ein augenverdrehen, entsprechend interpretiert habe. überhaupt ist die interpretation des wahrgenommenen ja ein ganz entscheidender faktor, nicht wahr? Steffen sieht einen jungen mann, der harfe spielt, und interpretiert ihn als engel. der mann in mehlem wird vielleicht eine ähnliche erfahrung gemacht haben, die ihn dazu veranlasst hat zu glauben, dass er Gott ist (auch schön: ein Gott, der sich selbst erst erkennen muss, der erst an sich selbst glauben lernen muss). vielleicht ist ihm einmal ein wunsch, kaum dass er ihn ausgesprochen hat, in erfüllung gegangen. vielleicht hat er gelernt, dass er weiterkommt, wenn er sich mehr auf sich selbst als auf Gott verlässt, und daraus die erkenntnis gezogen, dass er selbst Gott sein muss. was aber berechtigt mich dazu, meine wahrnehmung und interpretation der welt über diejenige von Steffen und diejenige des mannes aus mehlem zu stellen? klar, in Steffens fall gibt es fakten, mit denen sich seine interpretation in zweifel ziehen lässt: dass der junge mann ein musikstudent war und dass er selbst fast zugrunde gegangen wäre. und der mann in mehlem? was spricht dagegen, dass er Gott ist? will sagen, mir fehlen die fakten, um dagegen argumentieren zu können. ich kann nur glauben, dass er es nicht ist, wohingegen er jederzeit den beweis dafür antreten kann, dass er es ist. bis dahin aber ist völlig unentschieden, wessen welt und wahrnehmung hier eigentlich die verrückte oder verrücktere ist: seine oder meine.

als ich in montabaur ankam, hatte ich bereits den entschluss gefasst, den beweis nicht abzuwarten. ein paar monate später – das rheinland war zwar nicht untergegangen, aber Gottes wege sind ja, wie man sagt, unergründlich – zog ich nach berlin um.

 

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