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Freitag, 25. Januar 2008
Tagebuch | 22./25.01.2008
marcel diel, 15:47h
die meisten tage stolpern so dahin, immerhin: sie bewegen sich. zur ausübung meines berufs bedarf es eines schreibtischs, eines computers mit internetanschluss und ruhe, wenn auch nicht unbedingt einsamkeit. das ist nicht immer schön und tut auch nicht immer gut. ich rauche zuviel, verbummle zuviel zeit mit unwichtigem oder damit, zu überlegen, was wichtig ist, ohne mir diese frage letztlich beantworten zu können. ich schlafe zu tief und zu lang, aber das erst seit ein paar tagen. pflege die vage hoffnung, dass die zeit dort draußen einfach stehen bleiben und es letztlich auch reichen könnte, sich nur im geiste voranzubewegen. weiß, dass das nicht reicht.
mein verstand ist wach, ständig. deshalb irritieren mich träume von riesigen insekten (und das ist keine Kafka-anspielung) und verunsichern mich solche ›diskussionen‹, wie sie momentan um »gewalttätige jugendliche mit migrationshintergrund« geführt werden. mitunter sehe ich überall die hässliche fratze des faschismus. Biermann meinte mal (sinngemäß), man solle vorsichtig sein mit der anwendung dieses begriffes, damit er nicht seine bedeutung verliere und nicht mehr greife, wenn der ›echte‹ faschismus wieder vor der tür stehe. ich bin vorsichtig, aber je vorsichtiger ich werde, desto deutlicher sehe ich diese fratze vor mir, so deutlich, dass ich mich frage, warum nicht viel mehr leute, kluge leute, aufschreien, wenn in diesem land wieder einmal über »sicherheit vor freiheit« gefaselt und über neue möglichkeiten nachgedacht wird, die rechte der bürger einzuschränken.
es ist schwierig, im angesicht des unrechts nicht selbst ungerecht zu werden. wie ein mantra bete ich mir (guter katholik, der ich war) immer wieder vor:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeitmuss man, um ›den boden für freundlichkeit zu bereiten‹, selbst unfreundlich werden? und wenn ja, in welchem maß?
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser.
vielleicht sind die zeiten aber auch gar nicht so finster, wie ich sie mir einrede. vielleicht sind nur meine augen lichtempfindlicher geworden. – »da hilft nur, aufzustehn und mal was andres sehn ...« – wir befinden uns in einem kabarett, berlin im spätsommer 1929. auf der bühne Kurt Gerron, theresienstadt ist noch weit, am klavier Rudolf Nelson, das publikum, einem bild von George Grosz entsprungen, kreischt vor lachen. um schlag zwölf werden sie sich alle wieder in mäuse verwandeln, sie wissen es nur noch nicht. bis dahin wird getanzt und getrunken, geraucht und geflirtet, während sich die stadt, ganz langsam, aber merklich dem verfall entgegendreht. – »da hilft nur, aufzustehn und mal was andres sehn ...« – vor ein paar tagen habe ich zufällig eine kneipe entdeckt, die tatsächlich zum »raucherlokal« deklariert war: ein unscheinbarer irish pub am landwehrkanal, aber, wie sich – leider erst am ende, als der wirt, wohl neue stammkundschaft witternd, mir und meinem begleiter eine kleine führung anbot – herausstellte, mit einem dart- und einem billardzimmer bestens ausgestattet. M. und ich hatten ein paar stunden dort zugebracht, ein paar bier getrunken, geredet, es war erholsam, endlich auf andere gedanken zu kommen, oder besser gesagt: auf die gedanken eines anderen.
M. steht vor einer entscheidung: soll er's wagen, sich eine existenz als freier autor aufzubauen? ›freier autor‹, das klingt ebenso aufregend wie unbestimmt: sein eigener herr sein und sein brot mit schreiben verdienen – nur wie man das macht, weiß keiner so genau, und um ein risiko scheuen oder eingehen zu können, muss man es natürlich erst einmal kennen. als ich noch in den autorenverbänden meines heimatbundeslandes aktiv war, habe ich einige gestalten getroffen, die sich als freiberufler angemeldet hatten, nur weil sie in irgendeinem klein- oder gar im selbstverlag mal ein bändchen veröffentlicht hatten und nun auf den großen geldsegen warteten. ihnen allen war gemeinsam, dass sie sich verkannt fühlten und böse mechanismen am werk sahen, die ihnen den weg zum ruhm verwehrten. was man auch dagegen einwandte, immer waren die ominösen ›anderen‹ schuld an der misere: der verlag, der sich nicht genug um die vermarktung kümmere, der lektor, der ein manuskript abgelehnt habe, obwohl es doch mindestens »ein zweiter ›Ulysses‹« (ausgerechnet!) sei, der redakteur, der einem ein wenig leichtsinnig erzählt hatte, dass er selbstverlegte bücher prinzipiell nicht rezensiere, und schließlich wir, die ehrenamtlichen ›funktionäre‹, die ihm noch nicht einmal eine lesung verschafften. nur die qualität der eigenen texte war natürlich über jeden zweifel erhaben, und sich selbst etwas mehr engagieren? »ja, wozu gibt es denn euch!«
auf M. trifft das zum glück nicht zu. er ist realist genug, zu wissen, dass man höchst selten ›entdeckt‹ wird, wenn man nur zu hause rumhockt und sich nicht selbst von der stelle bewegt (sieh an, ein bogen zum anfang dieses eintrags! ts!). es ist eben so: die, die einen entdecken sollen, muss man erst selbst entdecken, man muss ihnen ein stück entgegenkommen, und das ist oft mühsam, zeitaufwendig, mitunter auch frustrierend. »aber weißt du, was mich persönlich am meisten frustriert hat?«, sagte ich zu M. »das waren die popliteraten. diese plötzliche schwemme an jungen autoren, die zum teil auch noch jünger waren und so ganz anders schrieben als ich und damit erfolge feierten. da wusste ich, dass ich in diesem theater nicht mitspielen kann.« auch so eine schutzbehauptung. dass jemand erfolg hat, sagt allein ja noch gar nichts aus. immerhin haben uns nicht zuletzt die popliteraten der 90er gezeigt, dass es weniger auf die literarische qualität ankommt als vielmehr darauf, dass das ›package‹ stimmt: autor und text zusammen müssen authentisch wirken, ›credibility‹ ist gefragt und ist das, was letztlich vermarktet wird. trifft natürlich nicht auf alle fälle zu. die kunst ist allerdings erst einmal, dahin zu kommen, dass man vermarktet wird, also: entdeckt zu werden. und wenn man ›gut ist‹ und kritikfähig, dann lohnt sich das wagnis, at least: man lernt eine menge dabei. sagt der, der es selbst nie ernsthaft versucht hat.
die meisten tage stolpern so dahin. ich rauche zuviel, verbummle zuviel zeit mit unwichtigem, ich schlafe zu tief und zu lang, träume von riesigen insekten. pflege hoffnungen. weiß, dass das nicht reicht. immerhin: mein verstand ist wach
filmchen gefällig?
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kleine idyllen (1)
marcel diel, 10:47h
7 uhr: der morgen
ist ein müder wolf der seinen mond noch sucht
kaffee ist kein ersatz für nacht und
bitter schmeckt die luft im an-
gedimmten tag der nebel atmet über
das noch stille grün vorm haus
ziehn müde schon die stadtarbeiter ihre
rasenmäher an den start
Der Gedichtzyklus »kleine idyllen« entstand im Mai 2004 und markiert das Ende meiner ›lyrischen Phase‹, die immerhin etwa sechs Jahre umfasste. Er blieb Fragment. Geplant hatte ich sechs dieser »Tageszeitgedichte« (so einer der Arbeitstitel; ein anderer lautete »Pinnwandgedichte«), aber bereits nach vieren, die ich hier nacheinander präsentieren werde, ging mir die Puste aus.
Das vorliegende Gedicht stammt vom 18. Mai 2004 und ist sicherlich auch in irgendeiner Zeitschrift erschienen, die ich aber gerade nicht zur Hand habe (falls ich sie wiederfinde, reiche ich die Info gerne nach). – Im Vorfeld der 8. Rheinland-Pfälzischen Literaturtage* 2007 in Montabaur wurden Landesautoren dazu aufgerufen, Gedichte einzureichen, die auf Fahnen gedruckt und während des Festivals in der Stadt ausgehängt werden sollten. Ich beteiligte mich mit fünf Gedichten, von denen schließlich zwei – dieses hier und ein weiteres ›Mini-Idyll‹ – in die engere Wahl kamen. Schließlich hieß es, ich solle mich selbst für eins von beiden entscheiden, was ich auch tat: Ich wählte das andere. Und dann brach der Sturm los. Naja, ich will's nicht übertreiben: Eines der Jurymitglieder jedenfalls hielt ein geradezu flammendes Plädoyer »für den mondsuchenden Wolf«: Auf gar keinen Fall dürfe dieses Gedicht fehlen, und wenn man dafür den Text eines anderen Autors opfern müsse! So weit kam es aber zum Glück nicht. Am Ende beschloss man, beide »Idyllen« in den ›Fahnenkanon‹ aufzunehmen. Leider entpuppten sich die Fahnen dann allerdings als PVC-Plakate, die an Laternenpfählen und in Schaufenstern aushingen. Meine beiden habe ich selbst nie zu Gesicht bekommen.
* full disclosure: Als Vorstandsmitglied eines der ausrichtenden Verbände war ich an der Organisation der Literaturtage selbst beteiligt, hatte jedoch keinen weiteren Einfluss auf die hier beschriebene Aktion und trat während des Festivals auch nicht als Autor, sondern nur als Moderator zweier Veranstaltungen in Erscheinung.
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