Montag, 21. Januar 2008
und keinem bricht der Sturm das Zungenbein

 


[direktwadern]

Nein, ich bin kein großer Hannes-Wader-Fan, aber ich hab was übrig für nostalgische Utopien (und für Widersprüche in sich), vor allem wenn sie im poetischen Gewande daherkommen. Ansonsten halte ich es mit Wolf Biermann: »Tief bewegt sein ist was Schönes – besser ist, sich selbst bewegen.« Was nicht heißt, dass ich das auch immer beherzige.

 

... link (0 Kommentare)   ... comment


ein gleiches (1)

 

Der Wahrheiten müde loben wir wieder die Gärten
verlegen uns auf Mädchen und suchen Leute auf
die wir mögen
(Nicolas Born, 1966)

Ein Gleiches
– für C. –

So sind wir einmal gegangen:
Du vorweg in Deiner Welt die ganz Stadt war
Und ich als Sammler Deiner Spuren

Jede einzelne hab ich aus dem Laub gelesen
Eifersüchtig jede Taube aufgescheucht die
Schamlos darin pickte /
    Längst hab ich Dich erkannt im Wechsel
    Bild der Schrift / Deine Konturen im
    Säurebad
               Nicht immer war Herbst
Aber immer war dieser Fluss an dem wir
Mit oder gegen das Wasser parlierten

Wenn wir dann saßen und ich meinen Blick ange
Kettet hatte im Himmel im Wort im Nebel
im Fluss im nächstbesten Baum

Hattest Du mit Deinen Worten bereits
Die ferne Stadt ganz und gar durchmessen
Wissend: dass sie nur Dir gehörte /
    Dein Blatt Papier: die camera obscura
    Zur Hand stets den Bleier gespitzt / am Ohr im
    Strumpfband im Hintern nach Laune
                               Und ich unfähig (was
Du ja wusstest) Deinen Blick nachzuahmen zum
Abschied von der Provinz meines Worts

Doch such ich noch heute Spuren in unserm
Gemeinsam begangenen Weg und weiß:

Die Deinen werde ich sicher erkennen —

 

Das Gedicht entstand im November 2001 und wurde, allerdings in einer früheren Version, in der Zeitschrift »Konzepte« erstveröffentlicht. Die hier wiedergegebene endgültige Fassung erschien etwas später im »Dichtungsring«.

Über mein Verhältnis zu Nicolas Born habe ich hier und da bereits ein paar Zeilen fallen lassen; C., dem das Gedicht gewidmet ist, ist derselbe wie im vorangegangenen Eintrag. Mehr über die Entstehung des Gedichtes hier.

 

... link (0 Kommentare)   ... comment


Tagebuch | 20.01.2008

 

C. kommt nach berlin, und das ist eine wirklich gute nachricht. wir trafen uns gestern am potsdamer platz, wo die dichter ihre jurten aufgeschlagen hatten. zum ersten mal war ich Sony dankbar für das monströse glasdach, das sie über dem center aufgespannt haben: auch was uns bedrückt, kann uns mitunter schützen, damit wir nicht im regen stehen, und der »prasselte« gestern »unaufhörlich hernieder« – ein richtiges ungarnwetter.

am bücherstand in jurte 2 trafen wir K., der gerade eine lesung hinter sich gebracht hatte und, wie er sagte, »hundemüde« war. »the drugs don't work.« wo er sie denn gelassen habe, die drogen, und warum er ihn nicht daran teilhaben lasse, wollte C. wissen, aber K. murmelte nur etwas von »ins bett jetzt, schlafen« und schaute traurig aus seinen weit geschlossenen augen (that's way too much). blieb dann doch noch eine viertelstunde, kaute erdnüsse, fragte mich beiläufig, was ich »denn so« machte, vergaß es im selben augenblick, unterhielt die buchhändler mehr durch sein gebaren als sich mit ihnen, ein kurioser zwerg, aber »großartig«, wie C. mir versicherte. ja, die jurten seien echt mongolisch-nomadisch, versicherte uns einer der händler, vor allem im sommer, wenn es heiß sei, könne man noch das schafsfett riechen, das die fellverkleidung drinnen ausdünstete, und C. landete den lacher des nachmittags mit seiner frage, ob die zelte denn durch das ständige auf- und abbauen keinen schaden nähmen, als wären sie nicht genau zu diesem zweck bestimmt.

K., fraglos ein großstadtnomade, ging schlafen und wir auf die suche nach einem café. fanden eins am gendarmenmarkt, dem mehr besuch gut getan hätte und das man guten gewissens kaum weiterempfehlen kann (insgeheim fluchte ich darüber, ein dreivierteljahr lang hier zu wohnen und noch immer die cafészene nicht einmal ansatzweise zu kennen). C. erzählte überm milchkaffee, dass er sich nun mit A. auf die konditionen ihrer zusammenarbeit geeinigt hätte. viel käme für ihn dabei nicht rum, aber es würde reichen, um sich ein zimmer zu nehmen und das kostspielige hin- und herpendeln zu finanzieren. wenn alles glatt ginge, werde er ab ende februar immer für zwei wochen pro monat in berlin sein. stellte mir dann eine textaufgabe: wörter, die eine andere bedeutung annehmen, wenn man nur einen buchstaben streicht, aber außer einem lahmen »bengel« wollte mir nichts einfallen. freute mich dafür ausgiebig darüber, dass die sache nun entschieden sei und er den schritt zum leben an zwei orten wagen wolle, und C. teilte freundschaftlich seinen cookie mit mir, legte dann noch einen amarettino nach.

als ich später durch den park zurückging, es regnete nur noch leicht und war schon dunkel, fiel mir – es muss an den anfangsbuchstaben liegen – Camus wieder ein, und ich wusste, es konnte kein besseres motto für den roman geben, den ich seit jahren in mir herumtrage und der nun danach drängt, geschrieben zu werden. zuhause angekommen, nahm ich den roten gleich mit auf die toilette, blätterte und fand, während ich mich des tages entledigte, die stelle, die ich gemeint hatte, beinah auf anhieb:
»Da hat er mich gefragt, ob mich eine Änderung in meinem Leben nicht reizen würde. Ich habe geantwortet, daß man sein Leben nie änderte, daß eins so gut wie das andere wäre und daß mein Leben hier mir keineswegs mißfiele. Er hat ein unzufriedenes Gesicht gemacht, hat gesagt, ich würde immer ausweichend antworten, ich hätte keinen Ehrgeiz, und das wäre im Geschäftsleben katastrophal. Ich bin dann wieder an meine Arbeit gegangen. Es wäre mir lieber gewesen, ihm keinen Anlaß zur Unzufriedenheit zu geben, aber ich sah keinen Grund, mein Leben zu ändern. Wenn ich recht darüber nachdachte, war ich nicht unglücklich. Als ich studierte, hatte ich viele derartige Ambitionen. Aber als ich mein Studium aufgeben mußte, ist mir sehr schnell klargeworden, daß das alles ohne wirklichen Belang ist.«

Albert Camus: Der Fremde. Roman. In neuer Übersetzung von Uli Aumüller. Reinbek: Rowohlt, 502000, S. 52.

 

... link (0 Kommentare)   ... comment


menschen können das
einfach verschwinden
plötzlich einfach nicht
mehr da sein weg sein
fort sein ohne
nachsendeauftrag
postlos fort sein
ihr haus einebnen die
spuren im staub verwehn
abschliessen gehen ohne
blick zurück und
weg sein nicht mehr
erreichbar sein sich dem
vergessen anfreunden
lächelnd gehn oder
traurig mit glitzerndem
blick die augen ganz weit
geöffnet und leise ganz leise
dem anderen deuten dass dies
eine treffen für eine zeitlang
oder für immer das letzte war
sich umdrehn und gehn und
nicht mehr da sein das
unausgesprochene lang schon
mit sich herumgetragene
nächte durchwachte eine wort
nun einfach nicht sagen
zum trotz oder spott
einfach behalten und
mit sich nehmen und keinen
abdruck und keinen versuch
eines echos am ort hinterlassen
nur gehen sich wenden und
gehen und weg sein fort sein
für kurz oder immer das
können nur menschen

festketten muss man sich
an die welt dass man nicht
ebenso einfach ebenso plötz
lich nicht mehr

 

Das Gedicht entstand 1999 und bildete den Abschluss eines Zyklus mit dem Titel »Wesland« [sic!], den ich im selben Jahr als bibliophiles Heftchen selbst verlegte. 2003 wurde es in die DuMont-Anthologie Lyrik von Jetzt aufgenommen und damit einem größeren Leserkreis zugänglich. Und tatsächlich hat es über die Jahre Aufmerksamkeit erzeugt, kurioserweise vor allem im Ausland. So erschien der Text, ohne dass ich selbst etwas dazu tun musste, der Reihe nach in einer rumänischen Anthologie, einer dänischen Literaturzeitschrift (»Hvedekorn«) und einer polnischen Anthologie, jeweils in Übersetzung.

Via jokers.de kann man Gedicht übrigens auch weiterempfehlen.

 

... link (0 Kommentare)   ... comment


eine frage der wahrnehmung

 

Warnung: Dieses Blog, liebe Leute, wird ein wilder Ritt durch alle meine Zeiten. Nur, dass ihr's wisst. — Der nachfolgende Text entstand im Mai 2007 (man sieht: manchmal hat es mich zwischendurch doch gepackt, das Schreibfieber) und erschien zuerst in einem anderen Blog, das für mich hauptsächlich der Sammlung kurioser Links diente. Das hat nun endgültig ausgedient.

 

im sommer letzten jahres traf ich Gott in mehlem. er stand wie ich am bahnsteig, und da er sah, dass ich rauchte, kam er auf mich zu und bat mich um feuer. ich gab es ihm, und nachdem er sich seine selbstgedrehte zigarette angezündet hatte, sah er mich an, hustete und deutete dabei auf meine reisetasche. »na, sind Sie schon auf der flucht?«, sagte er und fuhr fort, ohne eine antwort abzuwarten: »das ist gut, wissen Sie, ich habe nämlich beschlossen, das rheinland untergehen zu lassen.« sein mund qualmte dramatisch. »ja, der rhein wird sich über seine ufer erheben und dieses verdorbene land überschwemmen.« und wie zur entschuldigung setzte er hinzu: »von koblenz bis nach köln.« ich lächelte unsicher und versuchte, meine ratlosigkeit dadurch zu kaschieren, dass ich einen langen zug an meiner zigarette nahm, um anschließend den rauch betont langsam auszuatmen. jaja, dachte ich bei mir, wir wissen ja beide, dass zwischen koblenz und köln nicht nur bonn liegt, nicht wahr? er sah mich schweigend an, dann lächelte er. »lustig, dass Sie das erwähnen, da komme ich nämlich gerade her«, sagte er. »ähm …«, setzte ich an, aber er unterbrach mich: »das müssen Sie sich vorstellen« – er blickte an mir vorbei, als spräche er zu dem rauch, der zwischen uns aufstieg – »die haben mich einfach dort eingesperrt. die haben mir nicht geglaubt.« er hustete kurz. »nicht an mich geglaubt«, präzisierte er. »diese kleingeister. und meine freundin« – sein mund zitterte – »meine freundin sitzt da immer noch.« die zigarette entglitt seinen fingern und landete auf dem boden. »verbrecher«, schrie er plötzlich so laut, dass ich zusammenzuckte, »elendes pack.« seine stimme überschlug sich. »aber wartet. meine rache wird furchtbar werden. der fluss wird sich erheben. kein stein wird auf dem anderen bleiben.« wow, dachte ich, Gottes freundin. kein wunder, dass der sich so aufregt. seine grauen, wässrigen augen fixierten mich. mir wurde mulmig. was hatte ich doch gleich über den umgang mit verrückten gelesen? am besten defensiv verhalten, nicht auf sie eingehen, und vor allem keine widerworte geben, wenn sie sich in rage geredet haben. also schwieg ich und hielt mich betont lässig an meiner kippe fest, die schon fast bis zu den fingerspitzen abgebrannt war. »es ist schon gut«, sagte er mit einem mal so ruhig, dass es mir angst machte, wobei er den blick nicht von mir abwandte. »aber sehen Sie zu, dass Sie sich in sicherheit bringen. das hier ist verdorbenes land.« hustete kurz, drehte sich um und ging. ich seufzte erleichtert auf. ein paar schritte von mir entfernt raschelte eine zeitung, ich blickte auf. der mann, der sie hielt, sah mich abschätzig an, als wäre ich für den verrückten verantwortlich. als wäre ich selbst der verrückte. ich starrte zurück und grinste, so lange, bis er sich mit einem leisen grummeln wieder seiner morgenlektüre zuwandte. mich in sicherheit bringen, dachte ich. eigentlich keine schlechte idee. ich schnippte die zigarette ins gleisbett.

Gott sagt, ich soll aus bonn weggehen, simste ich einem freund von unterwegs. der zug war wie jeden freitagmorgen so voll, dass man in den gängen stehen musste, weil nicht einmal im bereich der türen noch ein platz frei war. als dicker mann mit reisetasche kam ich mir bei jedem halt wie ein hindernis vor, ein gefühl von minderwertigkeit, das ich in all den jahren nicht zu verdrängen gelernt hatte. gäbe es die möglichkeit der teleportation, ich wäre mit sicherheit ein begeisterter nutzer. wahrscheinlich, überlegte ich, würden sie für leute mit übergröße zuschläge erheben. andererseits gäbe es vermutlich sowas wie vielfliegerrabatte. und konkurrierende unternehmen, die sich gegenseitig im preis unterbieten, so wie heute in der stromversorgung oder im telefongeschäft. es gäbe business-tarife für pendler und öko-tarife für umweltbewusste, billigteleporter aus taiwan für den hausgebrauch mit gefälschten tüv-plaketten, und jede woche mindestens eine neue horrormeldung in der boulevardpresse: »teleporter defekt! mann in hund verwandelt!« – »schwupps, da war die oma weg!« – »der hightech-mörder: entsorgte er seine opfer via teleporter?« – »papst warnt: seele nicht teleportierbar!« es gäbe sekten, die »reinkarnation schon zu lebzeiten« anböten und auf diese weise »ewiges leben« garantieren könnten. und so etwas wie körpertourismus: »verbringen Sie drei wochen im körper einer frau!« – »wollten Sie schon immer wissen, wie man sich als baum fühlt?« ungeahnte möglichkeiten für psychotherapeuten und esoteriker aller art – und natürlich für die seriöse medizin: tumore z.b. könnten einfach »weggebeamt« werden. überflüssige pfunde natürlich auch. womit sich das problem der übergewichtigkeit elegant lösen ließe. und ich müsste keinen zuschlag zahlen. ich seufzte. schade, bislang dachte ich immer, ich sei ein zuspätgeborener. jetzt muss ich einsehen, dass das gegenteil der fall ist: ich bin zu früh geboren – um ein paar hundert jahre zu früh. die welt ist ungerecht und ich ein eskapist vor dem Herrn. mein handy piepte. ach!, simste der freund zurück. na prima, dachte ich, noch einer, der mich für verrückt hält.

ich kannte mal einen, der hielt sich zeitweise für einen engel, kam es mir in den sinn, als ich in koblenz stand und auf meinen bus wartete. eigentlich ist so eine psychose ja ein tragisches schicksal, aber immer, wenn ich diese geschichte zum besten gab, amüsierten sich die leute. Steffen, so hieß der gute, war ein unauffälliger typ, gesund bis dahin, kein künstler, hatte freunde, stammte aus gutbürgerlichen verhältnissen, nahm keine drogen, war mit sich selbst, soweit man das von außen beurteilen konnte, im reinen und hatte gerade sein zimmer im studentenwohnheim bezogen, da hörte er eines morgens im flur leise harfentöne. er ging dem geräusch nach bis zu einer tür, die einen spalt weit offen stand, und durch diesen spalt spähend sah er einen jungen mann, der auf einem bett saß und tatsächlich auf einer großen konzertharfe spielte. in diesem moment, erzählte mir Steffen, sei ihm plötzlich und unhinterfragbar klar gewesen, dass dieser junge mann ein engel sein müsse – und er selbst folglich, da er ihn ja wahrnahm, entweder tot, was für ihn jedoch zweifellos auszuschließen war, oder selbst ein engel, denn engel erkennen ihresgleichen auf anhieb. diese erkenntnis habe ihn so überwältigt, dass er die tür weit aufgestoßen habe und dem jungen mann mit einem freudigen »bruder!« um den hals gefallen sei. dass diese freude nicht eben erwidert wurde, kann man sich vorstellen, aber es dauerte eine ganze weile, bis Steffen selbst einsah, dass es eine dritte deutungsmöglichkeit gab, die er nicht in erwägung gezogen hatte: dass er verrückt sein könnte. bis er zu dieser erkenntnis gelangte, hatte ihn die andere jedoch beinahe das leben gekostet. tagelang hatte er nichts gegessen – engel brauchen ja keine nahrung –, nur still in seinem zimmer gehockt und weiterer himmlischer offenbarungen geharrt, die sich aufgrund seiner zunehmenden körperlichen entkräftung quasi zwangsläufig einstellten. bis ihn die freundlichen männer in den weißen kitteln abholten, war er in der hierarchie seiner neuen geistigen welt längst vom engel zum gottessohn aufgestiegen. den jungen mann mit der harfe gab es übrigens wirklich: er war musikstudent, und aus seiner sicht war der bizarre kommilitone, der ihn bei seinen morgendlichen etüden gestört hatte, kein verrückter, sondern einer, der wohl ein pfeifchen zu viel geraucht hatte. die erkenntnis, die er aus dem vorfall zog, war, nur noch bei geschlossener tür dem musikspiel zu frönen. es waren die eltern, die schließlich für Steffens einweisung sorgten.

es ist eben alles eine sache der wahrnehmung, dachte ich, während ich vor der bushaltestelle gemächlich auf- und abschritt, deshalb ist das wort »verrückt« eigentlich ganz zutreffend. es ist die wahrnehmung der welt und meiner selbst in der welt, die verrückt. aber auf der basis dieser wahrnehmung – und eine alternative dazu gibt es ja nicht, zumindest keine, die man frei wählen könnte – funktioniert alles nach logischen gesichtspunkten. Steffens wahrnehmung beruhte auf der prämisse, dass vor ihm ein engel saß – also musste er selbst ein engel sein. der mann in mehlem ging davon aus, dass er Gott ist – also steht es in seiner macht, das rheinland untergehen zu lassen. von koblenz bis nach köln zumindest. was passiert wohl, wenn er herausfindet, dass das mit dem rheinlanduntergehenlassen leichter gesagt als getan ist? seine welt fußt ja nunmal auf der prämisse, dass er Gott ist. wird er sich selbst in frage stellen? das hätte durchaus etwas charmantes – ein Gott, der sich selbst verneint. oder wird er sich schlicht darauf besinnen, dass er seine rolle als rachsüchtiger allvater eigentlich schon vor zweitausend jahren abgelegt und sich in das gewand des gutmütigen, nachsichtigen, christlichen Gottes gekleidet hat?

freilich gäbe es, überlegte ich, als ich im bus über die montabaurer höhe schaukelte, noch eine andere deutungsmöglichkeit. ich betrachte den mann aus mehlem als verrückten, da seine wahrnehmung der welt und seiner selbst eine andere ist als die meine, natürlich in dem bewusstsein, dass ich mich mit meiner einschätzung im stillschweigenden einverständnis mit der mehrheit, sagen wir mal, der weltbevölkerung befinde. aber was heißt das schon. ich neige ja auch dazu, mich selbst in bestimmten situationen als hindernis für andere wahrzunehmen, ohne auch nur einen dieser anderen zu fragen, ob er mich ebenfalls so wahrnimmt. und überhaupt: ist dieser minderwertigkeitskomplex nicht auch nur eine form von egozentrik, eines sich-selbst-zu-wichtig-nehmens? und dafür, dass meine selbstwahrnehmung nicht unbedingt mit der wahrnehmung meiner selbst durch andere übereinstimmt, gibt es ja zahlreiche beispiele. also ist die frage, wodurch mein selbstbild eigentlich gestützt wird. eine antwort darauf könnte lauten: in erster linie dadurch, wie ich selbst andere wahrnehme. wenn ich einen dicken mann mit reisetasche in einem engen gang stehen sehe, erscheint er mir als hindernis – aber das muss ja nicht auf die mehrheit der möglichen betrachter zutreffen. eine weitere antwort wäre: mein selbstbild wird gestützt durch meine eigene lebenserfahrung – dass ich also schon mal in ähnlichen zusammenhängen die erfahrung gemacht habe, von anderen z.b. als hindernis wahrgenommen worden zu sein, eben weil sie sich entsprechend geäußert haben (auch so ein schöner begriff: »sich äußern«) oder ich ihre äußerungen, ein aufstöhnen, ein augenverdrehen, entsprechend interpretiert habe. überhaupt ist die interpretation des wahrgenommenen ja ein ganz entscheidender faktor, nicht wahr? Steffen sieht einen jungen mann, der harfe spielt, und interpretiert ihn als engel. der mann in mehlem wird vielleicht eine ähnliche erfahrung gemacht haben, die ihn dazu veranlasst hat zu glauben, dass er Gott ist (auch schön: ein Gott, der sich selbst erst erkennen muss, der erst an sich selbst glauben lernen muss). vielleicht ist ihm einmal ein wunsch, kaum dass er ihn ausgesprochen hat, in erfüllung gegangen. vielleicht hat er gelernt, dass er weiterkommt, wenn er sich mehr auf sich selbst als auf Gott verlässt, und daraus die erkenntnis gezogen, dass er selbst Gott sein muss. was aber berechtigt mich dazu, meine wahrnehmung und interpretation der welt über diejenige von Steffen und diejenige des mannes aus mehlem zu stellen? klar, in Steffens fall gibt es fakten, mit denen sich seine interpretation in zweifel ziehen lässt: dass der junge mann ein musikstudent war und dass er selbst fast zugrunde gegangen wäre. und der mann in mehlem? was spricht dagegen, dass er Gott ist? will sagen, mir fehlen die fakten, um dagegen argumentieren zu können. ich kann nur glauben, dass er es nicht ist, wohingegen er jederzeit den beweis dafür antreten kann, dass er es ist. bis dahin aber ist völlig unentschieden, wessen welt und wahrnehmung hier eigentlich die verrückte oder verrücktere ist: seine oder meine.

als ich in montabaur ankam, hatte ich bereits den entschluss gefasst, den beweis nicht abzuwarten. ein paar monate später – das rheinland war zwar nicht untergegangen, aber Gottes wege sind ja, wie man sagt, unergründlich – zog ich nach berlin um.

 

... link (0 Kommentare)   ... comment


Alles auf Anfang
Mit 28 gab ich das Schreiben auf. An einem Punkt angelangt, an dem ich glaubte, mir selbst nichts mehr zu sagen zu haben, fiel es mir nicht schwer, diese Entscheidung zu treffen. Es gab andere Aufgaben, auf die ich mich konzentrieren konnte und die mit der Zeit das, was man am treffendsten wohl als Schreibfieber bezeichnen kann, gänzlich verdrängten.

Ohnehin war ich immer gut darin gewesen, mich und meine Fähigkeiten in Grund und Boden zu reden; kein Kritiker konnte härter mit mir ins Gericht gehen als ich selbst. Ich war mein eigener Reich-Ranicki, und je mehr Zeit verging, desto grrrrässlicher fand ich meine Texte. Dass andere das nicht so sahen, bestätigte nur meine Ansicht, dass ich selbst mein bester Kritiker war. Nicht umsonst hatte ich Germanistik studiert und damit ein Instrumentarium erworben, das es mir erlaubte, meine eigenen Texte akribisch zu zerlegen.

Wie ein Pathologe sich durch die Gedärme eines Toten arbeitet, wühlte ich mich durch meine Gedichte: »Na, was haben wir denn hier? Ein bisschen Rilke, ja das ist dem Magen nicht gut bekommen. Und sehen Sie dort den Eichendorff? Der hat ihm ganz allmählich die Galle zugesetzt. Und dann noch ein Restchen Weinheber in der Leber – naja, allzu lange wäre das wohl nicht mehr gutgegangen. Den Garaus gemacht hat ihm allerdings der Born im rechten Lungenflügel, der sich ganz langsam bis zur Aorta durchgefressen hat ...«

Schluss damit. Zu viel Sarkasmus macht krank und ist doch meist nur schlecht kaschiertes Selbstmitleid. Um das einzusehen, brauchte es eine schmerzhafte Trennungsgeschichte und einen Umzug in eine andere Stadt. Dort sitze ich nun und hole noch einmal die alten Texte hervor, die ich, obwohl ich die meisten davon geringschätze, in Kisten ohne besondere innere Ordnung aufbewahrt habe. Jenseits aller Selbstzweifel denke ich, es muss etwas dran sein an diesen Gedichten. Immerhin gab und gibt es Leute, die sich viel Mühe damit gemacht haben, sie in Zeitschriften und Anthologien zu veröffentlichen und teilweise sogar in andere Sprachen, ins Dänische, Polnische, Rumänische, Englische zu übersetzen, ohne dass ich sie darum gebeten habe.

Dieses Blog trägt den Titel »Wesland«, über den noch zu reden sein wird (wie er auszusprechen ist, sei erst einmal dahingestellt), und soll eine Auswahl meines bisherigen literarischen Schaffens (meist Gedichte, aber auch ein bisschen Prosa) dokumentieren. Rund fünf Jahre sind vergangen, seit ich meinen Entschluss, das Schreiben aufzugeben, gefasst habe, und die meisten Texte daher nicht mehr frisch genug, um sie jetzt noch Verlagen anbieten zu können (was ich übrigens früher nie ernsthaft in Erwägung gezogen habe). Schade finde ich das allerdings nicht, denn es war mir damals, als ich sie schrieb, immer wichtiger, dass und nicht wie sie ihre Leser erreichen, und diesem (wenn man so will) früheren Ich fühle ich mich verpflichtet. Ich habe etwas an mir gutzumachen, und es versteht sich von selbst, dass ich dies nicht unter irgendeinem verschwiemelten Pseudonym, sondern unter meinem wirklichen Namen tue.

Dies ist ein Blog und keine Homepage. Daher habe ich mir vorgenommen, hier auch eine Art von Tagebuch zu führen, das vor allem dazu dienen soll, zu dokumentieren, ob es mir gelingt, den Faden, den ich damals abgerissen habe, noch einmal aufzunehmen. Damals stellte ich mich vor die Entscheidung: Will ich mich ernsthaft als Schriftsteller versuchen oder nicht? Und habe mich aus allgemeiner Frustration heraus dagegen entschieden. Heute weiß ich: Ich muss diese Entscheidung gar nicht treffen. Ich muss nicht Schriftsteller werden wollen, ich will nur schreiben und mich damit wieder der einzigen Tätigkeit widmen, die mich jemals wirklich erfüllt und glücklich gemacht hat. Dass ich das nicht im Geheimen, sondern öffentlich tun möchte, hat natürlich einerseits mit Eitelkeit zu tun; andererseits kenne ich mich zu gut, um zu wissen, dass ich ohne zumindest ein bisschen Druck von außen nicht von der Stelle komme. Allein zu wissen, dass es Menschen da draußen gibt, die hier mitlesen, wird hoffentlich ausreichen, mich wieder in Bewegung zu setzen – und zu halten.

Also, nochmal tief Luft holen, Anlauf nehmen ... und alles auf Anfang

 

... link (2 Kommentare)   ... comment