Dienstag, 22. Januar 2008
ein gleiches (2)

 

Willkommen, liebe Zuschauer, zum Telekolleg Deutsch.

In unserer heutigen Folge wollen wir uns der Analyse eines zeitgenössischen Gedichtes zuwenden und dabei insbesondere dessen Struktur und dessen Entstehungsprozess beleuchten, der für uns als Leser ja im Normalfall nicht transparent ist. Nicht zuletzt deshalb wird vor allem die jüngere Lyrik oft entweder als unzugänglich oder aber als ihrem Inhalt und ihrer Form nach allzu schlicht wahrgenommen. Machen wir also die Probe aufs Exempel.

Das Gedicht, um das es uns gehen soll, heißt »Ein Gleiches« und erschien erstmals in Ausgabe 31 der Zeitschrift Dichtungsring aus dem Jahr 2002. Entstanden ist es, wie der Verfasser uns mitgeteilt hat, am 14. November 2001 und wurde vor Veröffentlichung noch einmal leicht überarbeitet.

Schon der Titel lässt uns aufhorchen, handelt es sich doch eindeutig um eine Anspielung auf jenes berühmte »Wandrers Nachtlied«, das Goethe 1780 in einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau geschrieben hat und das er, da es ein gleichnamiges Gedicht von ihm bereits gab, »Ein Gleiches« nannte:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Dieses Gedicht gehört zweifellos zu den bekanntesten der deutschen Sprache; wir dürfen also annehmen, dass der Verfasser unseres Beispieltextes nicht nur unbewusst Bezug darauf nimmt. Allerdings gibt es in jener Zeitschrift keinen Text dieses Herrn, der dem Gedicht vorausgehen würde und auf den sich der Titel folglich beziehen könnte. Damit erhebt sich die Frage: ein »Gleiches« von was?

Die Antwort weiß vielleicht das Motto, das dem Gedicht vorangestellt ist, ein Zitat aus einem Text von Nicolas Born:
In Berlin 1966

Die Luft geht uns nicht aus
wenn wir wandern wenn wir wandern
von Britz nach Alt-Gatow
von Tegel nach Old Eden.
     Kiefern und Birken interessieren uns nicht
     Fontane und Raabe lassen wir links liegen.
Von Epidemien befallen
sind wir immer noch gut zu Fuß, üben
den Gleichschritt und stolpern über Soldaten.
     Delegationen machen sich schwarz
     und werden als Mohren an Mauern geführt.
Auf Fotografien sehen wir uns lachen
in die Zukunft hinein und hinweg
über die Köpfe unserer verhüteten Kinder.
     Die Freude ist diesseits.
     Das Schmähliche leuchtet.
Der Wahrheiten müde loben wir wieder die Gärten
verlegen uns auf Mädchen und suchen Leute auf
die wir mögen.

Nicolas Born: Gedichte. Hrsg. von Peter Handke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990, S. 9.
Tatsächlich haben wir hier ebenfalls das Lied eines Wandrers vor uns, der sich allerdings nicht in der Betrachtung der Natur ergeht, sondern beinah wie mit Meilenstiefeln das ehemalige West-Berlin durchmisst. Beide weisen eine ähnliche Perspektivik auf: Das »du« bei Goethe und das »wir« bei Born richten sich sowohl an den Leser als auch an den (imaginären) Autor. Am Ende von Goethes Gedicht steht die Anerkenntnis der eigenen Endlichkeit, die immerhin noch den Trost birgt, in die Ruhe der Natur eingehen zu dürfen. Borns Gedicht hingegen, dessen Folie nicht die Natur, sondern die politische Situation seiner Zeit bildet, endet in bewusster Abkehr vom Wahrgenommenen: »Die Freude ist diesseits« und individuell gestaltbar, kein universales Ganzheitserlebnis wird in Aussicht gestellt.

Der Verdacht liegt nahe, dass unser Verfasser zu diesen beiden Wandergedichten ein drittes, eben »ein Gleiches« gesellen wollte – und in der Tat stützt der Text diese These. Lautet die erste Zeile bereits »So sind wir einmal gegangen«, finden sich Verben der Bewegung in jeder Strophe, wobei zu der physischen Bewegung – dem Spaziergang des lyrischen Ichs mit einem offenbar konkreten »Du«, das im Gegensatz zu den beiden anderen Gedichten weder den Leser noch den Autor miteinschließt – noch die Bewegung der Blicke, der Gedanken, der Worte (oder vielleicht besser: des Wortes) hinzutritt.

Wie nun hängen Titel, Motto und Widmung (ein anonym bleibender »C.«), die wir als Paratexte bezeichnen, mit dem eigentlichen Text des Gedichtes zusammen? Gibt es womöglich ein alles verbindendes, gemeinsames Thema?

Der Verfasser hat uns dankenswerterweise Material zur Verfügung gestellt, das uns dabei hilft, diese Frage zu klären, indem es nämlich das Verhältnis zwischen ihm und Born und dem bewidmeten C. erläutert. Es handelt sich dabei um einen Tagebucheintrag, der, wie wir gleich sehen werden, bereits fast die gesamte Motivik seines Gedichtes vorwegnimmt, und einen Brief, der unmittelbar nach Fertigstellung des Gedichtes entstand:
Tagebucheintrag vom 12.11.2001:

Beim Lesen des Nicolas B. eines andren gedenkend

Hier entdeckt der Jüngere die Spuren des Älteren im Wechselbild der Schrift, im Entwicklerbad entätzen sich Konturen niemals gemeinsam durchtanzter Nächte, selbst Gespräche im späten Abend waren selten, können an den Fingern der Hand besser abgezählt werden als an den Blättern der Bäume, die eh nur dem einen Schatten spendeten, während der andre sich in die Flure der Großstadt ergoss, sie tatsächlich ganz & gar auszufüllen vermochte, immer ein Blatt Papier gleich einer camera obscura zur Hand und stets den gespitzten Bleier am Ohr, im Strumpfband, im Hintern, je nach Befindlichkeit ...
[Nebenbei bemerkt, wird hier offensichtlich, dass es eine gute Entscheidung war, den Stoff nicht in solch schwülstiger Prosa zu belassen.]
Aus einem Brief an C. vom 21.11.2001:

[...] Kürzlich stieß ich beim Zappen auf eine dieser zeitlich so schwer einzuordnenden Telekolleg Deutsch-Sendungen zum Thema »Lyrik nach 45«, namentlich Bachmann, Grass, Sachs, Celan, Enzensberger, Fried, Brinkmann und ein paar andere. Und dann zitierten sie »einen der Jüngeren«, ich weiß nicht mehr, mit welchem Gedicht, aber ich notierte seinen Namen. Und als ich später im Netz nach ihm fahndete, stellte ich mit einiger Enttäuschung fest, dass dieser Jüngere bereits ein gewesener, ein wesender Zeitgenosse war. Nicolas Born also.

Aber welch eine Entdeckung! Für mich die Lyrikentdeckung des Jahres. Und schon beim flüchtigen Blättern im handkeedierten Suhrkamp-Bändchen der Verdacht einer Ähnlichkeit, einer Verwandtschaft Borns mit dem Nachgeborenen C. – da konnte ich Dir das Ding (ist doch eins!) nicht vorenthalten, die Gelegenheit war halt günstig. Und ein Gedicht kam auch bei raus, eine Pressgeburt, kopflastig, nicht eben leicht dahingesprochen. [...]
Wir sehen also: Unabhängig von der Thematik des Gedichtes gibt es tatsächlich ein Thema, das die paratextuellen Elemente mit dem Haupttext verbindet. Es lautet


Damit, liebe Zuschauer, verabschiede ich mich für heute von Ihnen. Und denken Sie daran: ...

Noch Fragen?

 

... comment