Dienstag, 5. Oktober 2010
Tagebuch | 04.10.2010
marcel diel, 01:58h
das ungeheuer friedliche gemüt beim verlassen des büros. das erste mal seit wochen, dass ich mich nicht gehetzt fühle, sogar die blicke der fremden um mich herum aushalte, als ginge ich in eine aura aus selbstverständlichkeit gehüllt, ein unsichtbarer kokon gegen die brandung der gleichgültigkeit, die ich noch immer als anfeindung verstehe, als wüsste ich es nicht längst besser. als wäre ich nicht auch aus gerade diesem grunde hierher gezogen, den vermeintlichen schutz der anonymität zu genießen, der keiner ist, wenn man über all seinen minderwertigkeitskomplexen eben das genießen ständig vergisst, verdrängt, wenn man sich selbst nicht aushalten kann. ich hab das schreiben fast verlernt, merke ich, das pathos hingegen offensichtlich nicht. aber der frieden blieb. ich ging, allabendliches ritual, quer über das große feld im treptower park, im dunkeln, wie es mir am liebsten ist, keine seele um mich und in mir dieser friede, ich hätte schreien können vor lust. vielleicht, weil mit den anderen, die heute zur buchmesse aufgebrochen sind, auch ein teil des drucks, unter dem unsere produktion stattfindet, gewichen ist, denke ich jetzt. wirklich, ich arbeite gerne in diesem büro, mit diesen menschen, aber die letzten wochen haben kaum zeit zum verschnaufen gelassen, oft ging es bis zehn uhr abends oder noch länger, und selbst dabei ist vieles noch liegen geblieben, das ich nun in den nächsten tagen, wenn es bei uns ruhiger zugeht, weil die anderen und auch die meisten unserer kunden eben nicht da sind, endlich stück für stück abarbeiten kann. von der rückeroberung der wochenenden habe ich großmäulig gesprochen, wenn andere mich fragten, was mir der job denn im gegensatz zur freiberuflerexistenz ermögliche, aber noch immer gehören die wochenenden nicht mir, sind vollgepackt mit anderen arbeiten, und auch die haben sich angehäuft, weil auch der körper sich mal erholen will, und sei es nur durch ausschlafen, und der geist sich in bildern statt texten ergehen will, bewegten bildern folgend oder der spur des cursors von einer website zur nächsten, um scheinbar wahllos input zu sammeln oder sich einfach nur in den wind zu hängen, treiben zu lassen, ohne getrieben zu sein. erholung. wollte ich diesen sommer nicht mal an die ostsee fahren? hatte ich nicht vorgehabt, mir ein auto zu mieten für einen tag oder zwei und einfach rauszufahren ins umland, die stadt zu verlassen, andres zu sehen? nichts davon ist wahr geworden, obwohl ichs mir endlich leisten könnte. stattdessen wächst meine filmsammlung unaufhörlich, türmt sich das ungelesene, ungesehene, und braun geworden ist nur mein rechter unterarm, weil der schreibtisch direkt unterm fenster steht, hinter dem sich der sommer ereignet hat. dabei habe ich gar nicht das gefühl, meine zeit vertan zu haben, nur wünschte ich manchmal, ich hätte sie mit anderen dingen, anderen menschen auch verbracht. ich bin ja kein großer verreiser, dass paris mich locken will oder nizza kann ich gut aushalten, das niegesehene wien, selbst die ostsee, von der ich manchmal geträumt habe, erst recht die vergessene heimat, das rheinland. dass aber nicht mal der lange geplante sprung über den kanal geklappt hat, mein kreuzköllner lieblingslokal aufzusuchen (nächsten dienstag wird es mich wiedersehen, aber mit anlass), das wurmt mich und darf so nicht bleiben. und was mich noch wurmt: dass ich mir nicht die zeit nehme, mehr zu schreiben, und sei es nur sowas wie das hier. als hätte ich angst. doch nie war mir gerade dieses gefühl ferner als jetzt.
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Sonntag, 26. Oktober 2008
toskanamente II
marcel diel, 12:52h
»architekt sucht liebevolle wohnung in liebevollem haus mit liebevollen
bewohnern ...« – selten eine so liebevolle & ungewöhnliche suchanzeige
gesehen wie hier an der grenze zwischen meiner toskana und
kreuzberg (haltestelle heckmannufer)
zwischen kreuz und kalender passt immer noch ein wenig zuversicht.
der zettel sagt:
trotzdem, dass es unmöglich scheint,
trotzdem, dass alle meinen, dass es nicht gelingt,
trotzdem kannst du es schaffen!
(danke, Lilith!)
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Dienstag, 21. Oktober 2008
das rote buch (iv): departure lounge (1998–2000)
marcel diel, 23:32h
[Zu Teil 1]
zuerst der ort, dann der gedanke. […]
die schilder der bahn sind neuerdings
blau, schieben tiefe, die anzahl der zigaretten
vor den gleisen ist immer noch höher als die
der bekanntschaften, die man macht. schalen
sitze & kiesel, sprachtakte, erinnerung
brachte mich her, denke ich als ich gehe […]
Aus dem Gedicht departure lounge von René Hamann
(in ders., Neue Kokons. Gedichte,
lyrikedition 2000, München 2003, S. 13)
(Für M. – der mich antreibt, mehr zu wagen als das. irgendwann. bald.)
Bonn Hbf., Bahnsteig 3, Warten auf IR, 15.02.98
Menschen sind seltsam. Sie stieren, während sie warten, stieren sie einen an, als wollten sie sagen: Geh fort! Hier warten wir, und du bist keiner von uns. Langsam bekomm ich Gefängnispsychose, hab ich das Gefühl. Manchmal fällt es schwer, Phantasie und Wirklichkeit auseinanderzuhalten.
Im Zug:
Hier gestaltet sich mein Untergangsszenario: Kopfschmerzen, leichtes Benommenheitsgefühl, hinter mir sitzen drei Französinnen, die unentwegt schwatzen – aber halt! da gehen sie auch schon, siedeln über ins andere Abteil. Ich fahre nach Hause mit knapp 3 Mark in der Tasche. Geldverdienen müßte ich auch noch. Gestern befiel mich während eines
Gesprächs mit U. kurzzeitig der Gedanke, ich würde mein Studium abbrechen müssen, wenn das Bafög mir jetzt oder in 2 Semestern gestrichen würde. Möglich ist das. Dann stünde ich viel früher als ohnehin erwartet vor dem Nichts und wäre gezwungen, mir was zu überlegen. Vielleicht aber sollte ich bis dahin auch "einfach" mehr in mein Talent investieren, mich um Veröffentlichungen bemühen, was ich momentan so gut wie gar nicht tue. Mehr und mehr aber wird mir auch klar, daß im Grunde mich kein Beruf jemals so erfüllen könnte, wie es das Schreiben und das Vortragen tun. Wenn ich an Gott glauben wollte als den Schenker dieser Gabe, so müßte ich auch glauben, er wisse schon Sinn und Weg – und dann wäre auch der Zirkelschluß zur Bedingungslosigkeit meiner Kindheit gezogen …
IR Bonn–Koblenz, 18.02.98:
Vielleicht liegt es am heraufkommenden Frühling, vermutlich jedoch eher an meiner persönlichen Einstellung, daß ich immer nur das eine denken kann, z.B. gerade eben noch auf dem Bahnsteig beim Betrachten hauptsächlich der weiblichen Herumstehenden. Als wäre es das einzig denkbare, so toll, so großartig, daß man sich davon beherrschen lassen möchte. Aber mein Geist weiß schon, was er mir antun möchte, vor allem, warum er es tut: weil ich den Gedanken so sehr von mir abweise, weil ich so sehr darauf bestehe, ein – bitteschön – geschlechtsloses Wesen zu sein. Ja, er weiß es. Darum.
IR Koblenz–Bonn, 25.02.98:
Mit mir im Abteil was man "echte" Menschen nennt: Zwei Penner auf dem Weg nach sonstwohin, unterhalten sich über Fastnachtsvorfälle (zerstochene Reifen, eingeschmissene Schaufensterscheiben, eingebuchtete Zechkumpane, kürzlich verstorbene Mitstreiter). "Leben am Minimum." Der eine, mit hörbar geschädigten Stimmbändern, hat bis eben noch Zigarre geraucht und damit die restlichen zwei Abteilinsassen vertrieben. Jetzt steigen sie aus. Ihre Fahrt dauerte nur eine Station.
Über "echt" oder "nicht echt" ließe sich natürlich streiten, fest steht, daß ich niemals so hart am Leben sein möchte wie diese zwei, die ich respektiere in stiller beinahe Bewunderung.
IR Koblenz–Bonn, 03.05.98:
Daß ich mir das nicht abgewöhnen kann, stets zu denken, das Lachen anderer müßte mir gelten. Halte ich mich eigentlich selbst für so lächerlich? Vor allem weibliches Lachen. Nun gut, es unterstützt sicherlich ein Minderwertigkeitsgefühl in mir. Was soll das! Anwesenheit von Frauen, vor allem jungen, macht mich konfus. Ich weiche ihrem Blick, dem zufälligen (besser gesagt), aus. Und es ist auch besser, obwohl es quälend sein kann (hängt von mir ab, nicht vom Objekt). Taumelnde Frauen auf der Suche nach Platz in diesem Zug. Ich sitze (relativ) sicher. Wortteufel. Ich muß den Roman zu Ende bringen. Das Seminar. Und für meine Zukunft sorgen. Noch kann ich die Fahrkarte bezahlen – noch nicht mal Studententarif!
Was will ich sein
RE [Regionalexpress] Koblenz–Bonn, 19.03.99:
[Ja, ruckel Du nur! Wirst mich am Schreiben nicht hindern!]
Wenn ich mich heute noch vor den Zug werfe, in dem ich momentan sitze,
dann sagt ihnen, es sei wegen dieser irrationalen Angst gewesen. Es wird sie trösten, meine Motive, sofern ich sie erkenne und sofern sie wahr sind, nicht zu kennen, sondern schwerwiegenderes, einen [unleserlich], faßbareren Grund dafür verantwortlich machen zu können.
Es war die alte Angst, Freunde.
Macht Euch nicht diese Gedanken.
Ich bin ja bloß ausgestiegen. Abgesprungen. Vielleicht auch umgestiegen. Wir sehn uns am ferneren Bahnhof bestimmt wieder.
IC Bonn–Hagen (Schwerte), 18.06.99:
Die bleibenden Jahre
[Fahrt in den Mittag:]
Das Leben mißt |* wie Sonnenuhren |* sich
sichan Schatten und Licht
Im besten Fall steht der Schatten für Sorge
steht das Licht für Heiterkeit
undbeide im Mittag
Im schlechtesten Fall ist nur Schatten
und Nacht
Und die Nacht hat |*zwölf Stunden|* keine Grenze
bis zum Tag
Oder vierundzwanzig
Dann ist kein Tag
Nur Finsternis in allen Sinnen
Kein Sinn in allem
In aller Finsternis keine Ruhe
Dann ist nur Angst & Beklemmung
[KeinDieser Zug fährt keinen Bahnhof an
Dieser Zug kennt sein Zuhause nicht
und kein Ziel
[Gott verschone mich vor Mitreisenden! Köln Hbf.]]
Müde bin ich
Todmüde
In den letzten
bleibenden Jahren
"In Bonn beschreiben Sie Jahreszeiten.
In E. tun Sie das nicht." N., 19.6.99
Überarbeitete Fassung (August 1999, unveröffentlicht):
Die bleibenden Jahre
Das Leben mißt sich wie Sonnenuhren
an Schatten und Licht
Im besten Fall stehen beide
im Mittag
im schlechtesten ist nurmehr
Finsternis in allen Sinnen
kein Sinn in allem
in aller Finsternis keine Ruhe
in aller Unruhe
nurmehr Angst
Müde bin ich
todmüde
in den letzten
bleibenden Jahren
IR KO–BN, 21.06.99:
Die stillenden Nächte
Tagweit die Unruhe trägt
wie ein müder hungriger Vogel
die Nacht heran
Wenn ich mich recke und
auf die Zehenspitzen stelle vielleicht
sehe ich den Morgen dort hinten und
sehe wie düster er sein kann
In diesen Nächten wo ich
Schlafersehnendnicht finde
und die Ätschibätsch-Stimme in
meinem Kopf in meiner verkrampften
Brust mich verlacht
wünsch ich mir die
unvollendet und nie wieder angefasst
ICE Mainz–Bonn, 26.1.00:
Trotz der Negativerfahrung vor mehr als drei Jahren ist mir das Unterwegssein, speziell in Zügen, lieb geblieben. Bewegt werden ohne sich selbst bewegen zu müssen, dabei entspannt Landschaft betrachten, ein Buch lesen, eine CD hören, wunderbar. Oder seinen Gedanken entspannt nachhängen. Gestern abend die Lesung vor einem Publikum, das fast zum Fürchten regungslos war, so daß ich mich während des Vortrags ganz in mich zusammenzog, quasi mir selbst performte. Ein schöner Applaus, der mich aus der Lethargie riß, froh, es hinter mich gebracht zu haben. Der schöne Rest des Abends mit Freunden, die extra aus Siegen angereist waren, das gehaltvolle, literaturreiche Frühstück, der viel zu frühe Abgang meinerseits, weil "Verpflichtungen" meiner harren in Bonn. Schöne Momente, man darf,
zumindest sollte ich nicht versuchen, sie festzuhalten, sie werden sonst starr und in dieser Erkenntnis bedrohlich. Hätte ich nur endlich diese Depression überwunden! Fast ein halbes Jahr nun, ich gebe mir keine Hoffnung mehr, ehrlich gesagt, und kenne die Konsequenz nicht. Flucht bleibt sinn- und ziellos. Es ist nun mehr Unruhe (& Einbildung, die aus Unsicherheit resultiert) denn Angst und trotzdem unangenehm, weil ich das Ende nicht sehe und, ehrlich gesagt, auch nicht mehr daran glaube. Die Tabletten helfen nicht wirklich. Ich müßte Sicherheit in mir finden, doch dazu fehlt die Ruhe (Hallo, Teufelskreis!). Ich fühle mich krank und habe das unbestimmte Gefühl, daß von mir nichts übrigbleiben wird, sollte es ein Ende geben.
/departure lounge
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Sonntag, 12. Oktober 2008
das rote buch (iii): departure lounge (1997)
marcel diel, 06:00h
[...] die tage vergehen an den jahren,
hier in der gegend (ganz kaff, ganz grau & der kaffee längst lau)
sind die reime schon alt, sobald die klammer sich schliesst (um
die idylle kommt keiner herum), kommt keiner mehr an
(den andern heran), im leben nicht wieder! man bleibt
auf den restposten kleben – die tickets
fürs wegfahrn, endgültig, seit ewig vergeben.
Aus dem Gedicht departure lounge von Crauss.
(in: ders., Alles über Ruth. Gedichte,
lyrikedition 2000, München 2004, S. 18)
(Für K. – und für mich selbst)
KO [Koblenz], Hbf. [Hauptbahnhof], Kneipe “Bierfass”, 20.02.97
Wenn ich Freunde besuchen fahre, habe ich die größte Angst davor, uns könnte der Gesprächsstoff ausgehen. Dieses Sichnichtsmehrzusagenhaben, die weißen Flecken in einer Unterhaltung, bereiten mir ein solches Unbehagen, daß ich schon lange vor der Abreise eine tiefe Unruhe verspüre, gepaart mit einer Art Ohnmachtsgefühl mir selbst gegenüber, denn natürlich unterstelle ich mir selbst schon im Vorhinein die Schuld an diesen Dingen. In der Vergangenheit habe ich des öfteren bemerkt, daß meine pure Anwesenheit Gesprächsrunden zum Verstummen bringen konnte. Freunde sagen, es läge an meiner ruhigen, ausgewogenen Ausstrahlung – allein, das kann und will ich nicht glauben, nicht hinnehmen, fühle ich mich selbst doch so unwohl
und hilflos in solchen Momenten, krame in meinem Gedächtnis, das mich gewöhnlich im Stich läßt, nach Erinnerungsfetzen, um die Gruppe auf dieser Basis, der des Schwelgens, des Redens über gemeinsame Erfahrungen und Erlebnisse, wieder zu vereinen. Sie dürfen nicht schweigen!
Ich will nicht leugnen, daß es auch angenehme Formen der Stille gibt, solche, die innere Einkehr oder Ausgeglichenheit, Zufriedenheit oder Melancholie ausdrücken, kleine Pausen, vielleicht mit Musik unterlegt. Diese Momente vermag ich zu genießen, wenn man sich untereinander Blicke zuwirft, sich zulächelt und versteht, auch ohne Worte – gerade ohne Worte. Aber weiß man das vorher?
Jetzt werde ich wieder unterwegs sein, eine Bekannte besuchen, die ich vor drei Jahren das letzte Mal sah und zu der ich seither einen
sehr schönen und intensiven Briefkontakt halte. Und wieder sind da die Befürchtungen, meine bloße Anwesenheit könnte die Worte, die wir austauschen, nichtig machen, die Unterhaltung, die entstehen wird, zu einem Schweigen negieren, das in mir die alte Ratlosigkeit, das alte Unbehagen aufsteigen läßt, das mich vor der Zeit von dort wegtreiben wird, vielleicht mitten in der Nacht und ohne Abschied.
Oder aber: Es sei zuviel Gesprächsstoff vorhanden, so daß die Unterhaltung sich konfuser gestalten könnte, bis einer von uns ein Mißverständnis hervorruft, das alles im Streit enden läßt.
Dies sind die beiden Extreme in der Palette der Möglichkeiten. Man sollte im Vorhinein besser nicht darüber nachdenken – denke ich.
dto., Notizen:
"Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen."
(Spruch am Büffet in altdeutschen Lettern)
Die Weinschilder an der Wand verheißen regionale Qualität: "Mosel-Saar-Ruwer / Kinheimer Urgemund", "Granneberger Riesling", "Kloppner[?] Braunberger / Mosel-Saar-Ruwer"[.] Daß ich nicht lache!
Auf dem Tisch das Frühstückskärtchen: "Bierfass | Guten Morgen | Frühstück | 2 Brötchen, Butter, Konfitüre, eine Wurst-/Käse-Beilage, Rührei mit Schinken | 1 Glas Orangensaft und 1 große Tasse Kaffee | 9,90"[.] Was günstig ist und relativ üppig.
Ich wundere mich immer wieder, wieviele Leute morgens schon hier beim Bier sitzen. Ebenso, daß Bahnhofskneipen offenbar auch für Stammtische geeignet sind. Das ständige Kommen und Gehen paßt so gar nicht dazu.
dto., Bahnsteig zu Gleis 4, Warten auf den IC [Intercity]
Menschen an Bahnsteigen sind mir die liebsten. Sie beobachten und lassen sich beobachten, manche zielen direkt darauf ab, gesehen zu werden, anderen sieht man ihr Unwohlsein beim puren Gedanken daran an. Nun ist zwar um diese Uhrzeit – 10.45 – nicht allzu viel los hier, aber es lohnt sich trotzdem, die potentiellen Mitreisenden und ihr Verhalten etwas näher zu begutachten.
Außer acht lassen will ich die Herrschaften über fünfzig. Ihre Gesten, ihre Mimik sind einstudiert und über die Jahre Routine geworden: zu jedem Ort das passende Gesicht, das passende Verhalten, die passende Kleidung.
Ebenfalls außer acht lassen will ich die Gruppe der Unterzwanzigjährigen mit ihrem vorhersehbaren Verhalten,
meist hübsch angepaßt und nicht ahnend, wie lächerlich ihr Gehabe mitunter nach außen wirken kann. Außerdem gehen sie mir schlicht auf den Geist.
Nehmen wir also die Such&Find-Gruppe unter die Lupe.
Ich entdecke einen etwa vierzigjährigen Mann mit Fellmütze und fliederfarbenem Damenmantel. Die Bahnbeamten rümpfen die Nase, als er an ihnen vorbeigeht. Er selbst wirkt etwas orientierungslos, starrt mal in diese, mal in jene Richtung, legt schließlich den mitgebrachten Rucksack – einen Schultornister aus Leder in knalligen Farben – auf eine der Sitzbänke, steht, trippelt. Der Mann hat einen Schnauzer, sein Gesicht ist übersät von Stoppeln – soweit kann es also nicht her sein mit der Travestie, denke ich und beobachte weiter. Schließlich wendet er sich an einen zufällig herumstehenden Schaffner und fragt nach einer
Zugverbindung. Der Schaffner verschränkt die Arme, nimmt bewußt Distanz und antwortet knapp und förmlich. Der Mann geht noch ein wenig auf und ab, nimmt dann seinen Tornister auf und verschwindet aus meinem Blickfeld.
Ich orientiere mich neu. Meine Blicke haften auf einem Pärchen, beide wohl um die dreißig. Sie, klein und etwas fülliger, mit viel Make-up und dauergewellten Haaren, in einer Gymnastikhose und Pullover der gleichen Farbe, führt einen Mischlingshund an der Leine. Ihr Partner, bartstoppelig mit breitem Grinsen, in T-Shirt und abgewetzter, schwarzer Lederjacke, Blue-Jeans, insgesamt eher abgerissen, geht neben ihr, nein, er schreitet breitbeinig, sein Gesicht sagt: "Schön, daß es mich gibt." Ich grinse zurück. Er übersieht mich.
Mein Zug wird über Lautsprecher angekündigt.
Eine routinierte Frauenstimme mit lautstarkem Hintergrund. Ich stehe auf, greife die Henkel meiner Reisetasche und gehe die paar Schritte zur Bahnsteigkante. Ein Mädchen, zwanzig oder älter, steht da, schaut etwas nervös. In den Händen hat sie einen Papiertrichter, aus dem unten ein Stiel ragt – eine Rose, wie ich vermute. Das Mädchen wartet, blickt ungeduldig in die Richtung, aus der der Zug einfahren wird.
Ein Signal ertönt. Drei Schaffner säumen den Bahnsteig. Der IC "Heinrich der Löwe" von Basel nach Dresden trifft ein. Ich reihe mich ein in die Schlange der Mitreisenden vor der Eingangstür. Als ich den Zug betrete, höre ich hinter mir den Freudenschrei eines Mädchens. Ich lächle. Ich weiß.
Im IR [Interregio] 2432, Bonn–Koblenz, 5.04.97:
Ich bin gefangen in/von zwei Welten, und gerade hier, im Zug von der einen, noch im Entstehen begriffen[en], zur anderen, der alten Welt, überwältigt mich dieses Gefühl: daß ich weder in die eine, noch in die andere gehören will – in die eine, die neue, nicht, weil mich an sie (noch) nichts bindet, in die andere, die alte, nicht, weil mich zuviel an sie bindet, und vieles auch, was ich verdrängen oder vergessen will. Abstand zu halten ist schwierig, sich neue Wege und Stätten zu erschließen ebenso. Dies sind die Gedanken, die ich mir schon während vergangener Abende gemacht habe, und allzu oft überfallen mich Angst und Unentschlossenheit. Ich kämpfe dagegen, mit geteiltem Erfolg. Noch. Ich hoffe, die neue Welt wird siegen, während sie sich nun
gleichsam entfernt, ich sie hinter mir lasse für ein Wochenende und meinen Blick ausrichte auf das Bekannte, das Altvertraute, auf das ich mich zubewege – und das Gefühl der Hilflosigkeit schwindet, macht Platz für Heimat, unterdrückt die Sehnsucht nach der Weite, es "engt befreiend". Und in der nächsten Woche werde ich mich wieder elend fühlen bei dem Gedanken an den alten Ort, mit dem ich noch lange nicht abgeschlossen habe. Er bedeutet mir etwas – auch das will und muß ich verdrängen, Platz schaffen für das Neue, dessen Bedeutung mir noch unklar ist. Kommilitonen reden von Freiheit, Unabhängigkeit, beschwichtigen Anfängerängste. Vielleicht werde ich am Ende des Semesters ebenso denken. Ich hoffe es. Ich brauche die Verbundenheit zu einem Ort. Liebe ich das Reisen auch sehr: das Gefühl, heim zu kommen[,] wird immer stärker sein.
IR 2213 "Murgtal", Bonn–Mainz, 10.05.97:
Jetzt, wo ich wieder in einem Zug sitze, und die Landschaft verstreicht in meinem Blick, da erinnere ich mich an November, als ich von Würzburg nach Koblenz fuhr, die Angst im Herzen / im Verstand, und ich frage mich, was ich damals eigentlich gedacht habe, als ich schreien oder springen oder einfach tot sein wollte. Ob ich an die nicht enden wollende Zugfahrt dachte, also im Hier & Jetzt verweilte, oder an die graue Perspektivlosigkeit der Zukunft. Beides scheint mir möglich, letzteres freilich wahrscheinlicher.
Heute, wo ich gelernt habe, meine Gedanken momentan zu halten und das Zukünftige meinen Träumen und Ahnungen zu überlassen,
erscheint mir dieser doch kaum ein halbes Jahr zurückliegende Vorfall wie eine weit entfernte und dennoch vertraute Erfahrung, von der ich nicht mal mehr mit Sicherheit weiß, daß sie tatsächlich geschehen ist, sie ist faßlos-faßbar, ein Grauschleier in meiner Erinnerung. Ich habe meinen Weg gemacht und weiß, vor einem halben Jahr wäre nichts von dem, was ich heute tue, denkbar gewesen. Es war nicht mein Weg allein. Ich habe anderen Menschen zu danken, die für mich da waren, die mir Hilfe zur rechten Zeit leisteten, und diese Dankbarkeit erfüllt mich bis heute, macht mich stolz und froh und glücklich und wohl auch ein wenig betrübt, da ich weiß, daß anderen ein solches Glück allzuoft nicht widerfährt. Nunja, ich bin ich, schätze ich, von daher …
IC "Andreas Hofer", Mainz–Bonn, 11.05.97*
– Hallo! Hallo! Haben Sie auch Eis? Haben Sie – Hat wohl nicht.
– Hat er Eis? Hat er kein Eis gehabt?
– Nein, er hat kein Eis gehabt.
– Na, der muß doch Eis gehabt haben! Hat der kein –
– Nein, der hat kein Eis gehabt.
– Naja, vielleicht hat er ja, wenn er wieder.
– Jaja.
– Jetzt geht dieses – Na, jetzt geh – Ich, was ist denn bloß los mit mir, krieg ich noch nicht mal – Ah, jetzt geht’s.
– Ja, und da: schon wieder grau.
– Gibt Regen.
– Jaja.
* desperate Omas, mitgeschrieben wie gesprochen
– Gibt kein schönes Wetter mehr.
– Jaja.
– Fahren mittenrein in’ Regen. Mittenrein.
– Jaja.
– Aber gibt auch wieder Sonne.
– Jaja.
– Siehst du, da drüben, die Kirche, so schön mitten im Hang.
– Was?
– Ja, die gelbe da. Schön so überm Rhein.
– Achja.
– Ja, jetzt ist vorbei.
– Ja, geht ja schnell so mit ’m Zug. Sind schon bald da.
– Ja, oh, und wird schon wieder heller. Na, kommt die Sonne doch nochmal raus.
– Ja.
– Ah, jetzt kommt er wieder. Bringt was. – Na? Achso: Kaffee.
– Kein Eis?
– Nee nee, kein Eis. KAFFEE bringt der. Aber nicht für uns.
– Nee. Nee, wir wollten ja auch Eis …
– Aber der hat ja seinen Wagen gar nicht dabei.
– Nee. Nee. Ich versteh das nicht.
– Ist jetzt auch egal. Kommt sowieso bald der Bahnhof.
– Was?
– Na, müssen wir aussteigen. Dauert nicht mehr lang.
– Ach. Wenn das so ist.
– Ne?
– Ja, dann brauchen wir auch kein Eis mehr.
Kneipe "Bierfass", KO Hbf., 22.06.97:
Zu mir kommen die Leute mit den uneigenen Gedanken, die reden viel, die sind auch recht gewandt manchmal, die tun immer so, als könnten sie nichts dafür, daß sie so laut und arm und immerfröhlich sind – mit denen rede ich, was ich nicht denke, und manchmal, wenn sie mir lästig werden, was ich denke, und sie nicken dann verstört und versuchen sich in gleichgültigem Verständnis –
Zu mir kommen die Leute mit den eigenen Gedanken, die schweigen meist, die reden nicht viel, doch was sie sagen, ist überlegt, selbst dann, wenn sie (wie so oft) verzweifelt sind, und sie tragen an der Schuld, die nicht die ihrige ist, und: sie tragen sie gern – mit denen rede ich, was ich denke, meist sind wir uns einig, wenn nicht, respektieren wir einander in tiefer Verbundenheit – wir sind einfach so.
IC Münster–Osnabrück, 08.07.97:
Den "Allwetterzoo Münster", wie es in einer Bahnhofsreklame hieß, verlassend, nun reichlich spät auf dem Weg über Osnabrück nach Bielefeld, will ich eigentlich nur unterwegs sein – mit gleichgültigem Ziel. In der Künstlerkolonie,* die ich heute besuchte, und wo ein Schild am Eingang zur Küche hing, fast prophetisch:
S
wird
Ernst
– da pflegt man das gemeinsame Abendessen, buntgemischt der Haufen aus acht bis zehn Leuten aller Altersschichten und Kunstsparten. Ob ich mich wohlgefühlt habe? Ich weiß es nicht. Ja, das Essen schmeckte ausgezeichnet,
* gemeint ist das Künstlerdorf Schöppingen
wenn auch der Koch ständig betonte, es sei zu wenig Salz an seinem Fleisch-Gemüse-Eintopf, zu wenig Salz, und jedem unaufgefordert ein Schnapsgläschen voll des Gewürzes in die Hand drückte. Es schien fast, als schäme er sich seiner Unvollkommenheit, dieser hervorragende Künstler auf allen Gebieten (ich sah seine Installationen, ich hörte, er schriebe gut, ich wußte, er beherrschte das Kochen und die Frauen). Nun senkt sich der Abend auf das Münsteraner-Osnabrücker Land und ich fahre "mit ungewissem Ziel". Das liebe ich: Fahrten in die Dämmerung. Es rührt mich, mein versteinertes Herz, meine knorrigen, allzu verbohrten Gedanken. Dann liebe ich auch all die Menschen um mich und, letztlich, sogar mich selbst. Und sollte mir wohl ein Stück Dämmerung im Geiste bewahren …
SE [Stadtexpress] Osnabrück–Bielefeld, dto.:
Was für ein Anblick, wenn das Land nach und nach in Dunkelheit fällt, zumal im Sommer – zumal ein so schönes Land wie dieses! Man möchte – Ich möchte (ich sagte es schon) ewig verweilen in der Dämmerung. Stand nicht auch mein Balthasar Weber, die angedachte Figur von 1992, in der Dämmerung auf einer Landstraße in Feuerland?* Waren/Sind dies nicht wahrhaft magische Momente? Da draußen ist nur Landschaft (aber immer Landschaft); lediglich kleine Lichtschimmer künden von Ortschaften. Und der blaßfeurige Horizont im Westen …
Ich fahr gen Nordosten, Bielefeld, C., H., eine Stunde entfernt. Im Abteil ist es angenehm ruhig (naja, ein lauter Walkman, jedoch mit angenehmer Musik). Hier darf ich sein. Hier will ich sein.
* ein nie geschriebener Roman
IR 2311 "Borkum", BN–KO, 01.10.97:
Ja, was soll ich anderes schreiben: Schon wieder unterwegs. Möge es nie Zeiten geben, in denen das nicht so ist! Zuhause erwartet mich nun eine etwas kränkliche Oma und 1 Tag zum Ausspannen, bevor es schon wieder, ein letztes Mal noch vor Semesterbeginn (=Vorlesungsbeginn), auf die Schiene geht, am T.d.E. nach Schwerte/Iserlohn, Samstag nach Bielefeld, Sonntag zurück nach Bonn. Drei Monate lang quasi nichts getan – so schnell vorbei die Zeit, aber viel ist passiert und nicht alles, was ich mir vorgenommen hatte, habe ich getan.* Am H.D.** habe ich, abgesehen von dem zaghaften Versuch einer Überarbeitung des 1. Teils, nicht weitergewerkelt; T., schwangere Bekannte, habe ich trotz Versprechens nicht besucht; in Berlin war ich nicht, was ich doch so gern wollte,
und auch nicht in Würzburg DIESER SCHEISS ZUG NOCH NICHT MAL RUHIG SCHREIBEN KANN MAN HIER!!! tja, und S. ist jetzt in Amsterdam, T. bald in Leipzig, M. in Rumänien seit einer Woche. Ich bin in Bonn, es geht mir gut, wirklich, ein bißchen Schiß hab ich vor der Nachschreibklausur nächste Woche und dem neuen Fach Philosophie.*** Irgend etwas Schlechtes wird passieren in nächster Zeit, das spüre ich. Es läuft bisher alles viel zu glatt.
* Seltsam, aber so steht es geschrieben …
** H.D. = »Highwire Dancer – Drift & Grundeis«, einer der wenigen (teilexperimentellen) Romane, die ich zumindest fertiggeschrieben habe; die Überarbeitung allerdings gab ich bald auf. Immerhin: Ausschnitte daraus schafften es bis in die SWR 2-Sendung »Literatur auf dem Prüfstand«, wo sich ein paar Kritiker, angeführt von Martin Lüdke, darüber hermachten und es brav zerhackten – völlig zurecht, wie ich heute einräumen muss, aber damals war ich mächtig sauer, oh ja. Ein paar Monate später wechselte ich das Genre, wurde Lyriker und blieb es, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, bis heute.
*** Begonnen hatte ich mein Studium im Sommersemester 1997 mit Anglistik als zweitem Nebenfach, musste aber sehr schnell erkennen, dass mein Englisch bei weitem zu schlecht dafür war. Dafür haperte es später in Philosophie mit der Logik.
KO Hbf., RB [Regionalbahn] Köln-Deutz, Gleis 2, 06.12.97:
In diesem Abteil lauter Gescheiterte: drei Mädels, offenbar unter Drogen, gerade wieder am Runterkommen und dementsprechend schlecht gelaunt (die eine, eine Frierende, sagt zu den anderen beiden: "Von euch geht eine Kälte aus!"; die beiden murren); ein Öko, den ich schon mal irgendwo erwähnte, genau der, und klagt sein Leiden dem ihm Gegenübersitzenden, einem Arbeitslosen; ein paar Jugendliche, die sich anpöbeln – aber das ist wohl nur Gemeinschaftssinn …
Irgendwie fühle ich mich wohl
Fortsetzung hier. Aber vorher noch etwas Musik:
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Samstag, 27. September 2008
das rote buch (ii)
marcel diel, 00:46h
(Für R.)
Parkbank auf der Poppelsdorfer Allee, unweit des Poppelsdorfer Schlosses, Bonn, 09.04.97:
Ich habe diesen Platz mit Absicht aufgesucht. Schon als ich das erste Mal hier war, kam mir der Gedanke, einen Text zu schreiben, was ich nicht tat. Jetzt ist es Abend, und der Platz hüllt sich in Abgeschiedenheit, abgesehen von den wenigen Spaziergängern und Joggern und gelegentlich vorbeifahrenden Autos. Die meisten Leute gehen zügigen Schrittes.
Ich weiß noch: als ich das erste Mal, am zweiten Tag meines Hierseins, angetrieben, die Gegend zu erkunden, hierher kam, wollte ich zunächst nicht an diesen Ort glauben. Ich war um eine Ecke gebogen, und mit einem Male war da dieser Teich, der sich wie ein stiller Fluß gebärdet, mit Enten und Fischen, und ich verfolgte
seinen vermeintlichen Lauf und gelangte an das Schloß, sah mich um und erblickte die lange Allee, an deren Ufer ich nun sitze, und sagte mir: "Dies ist ein Traum. Nichts davon wird morgen mehr da sein." Denn es erschien mir unbegreiflich, daß dieser Ort Wirklichkeit sein sollte, so nah bei meiner Wohnung gelegen, zumal ich zuvor doch den Stadtplan studiert und ihn nicht darauf zu finden vermeint hatte. So genoß ich den Augenblick des Hierseins im Gedanken daran, daß er unwiederbringlich sein würde, erfreute mich an der vermeintlichen Irrealität, schlenderte die Allee hinunter, jeden Baum eingehend studierend, mir jedes Einzelbild auf meinem Gange genau einprägend, um später einmal darüber schreiben zu können. Am nächsten Abend stellte ich fest, daß er noch vorhanden war, der Ort, was mich enorm beruhigte, allerdings auch die Einmaligkeit des Erlebten in Frage stellte.
Nun denn, ich habe zurückgefunden.
Es verwundert mich, daß zu dieser dunklen Stunde Menschen sich Zeit & Muße nehmen, am Zaun um den Teich herum zu verharren und ihre Gedanken über das stille Wasser gleiten zu lassen. Manche schlendern, allein oder zu zweit, über die Brücke in den Park des Schlosses, der jetzt noch brach wirkt. Auf dem Rasen zwischen der Allee steht ein junger Mann und jongliert. Ein paar Passanten bleiben stehen und beobachten still, gehen weiter. Ohne die Autos wäre dieser Ort eine Idylle inmitten der Stadt. Viele Radfahrer sind unterwegs, nach Hause, vermute ich, während nun die Kälte der hereinbrechenden Nacht über den Platz schleicht.
Beim ersten Mal erinnerte mich dieser Ort an Paris, die Champs-Elysées vom Arc de Triomphe hinunter zum – wie auch immer der Platz heißen mochte. Ich war nahe daran, in meiner Seligkeit
einen der Vorbeigehenden anzuhalten und nach dem Namen des Pariser Platzes zu fragen – tat es jedoch nicht, wie ich so viele Dinge spontan nicht zu tun bereit bin. Manchmal wünschte ich – und gerade in dieser noch von Einsamkeit bestimmten Phase der Eingewöhnung –, ich hätte ein offeneres Naturell. Auch fröhlicher möchte ich sein. Ich möchte gemocht werden. Sicher, ich spreche mit vielen Leuten – aber nur mit solchen, die mich zuvor angesprochen haben. So gebe ich mir selbst kaum die Chance, bald aus dieser Einsamkeit ausbrechen zu können. Wie gerne würde ich es erleben wollen, daß einer der Passanten sich zu mir setzte, um sich mit mir zu unterhalten, und sei es auch nur über Belanglosigkeiten. Aber allein das Schreiben signalisiert Abweisung und Abwesenheit des damit Beschäftigten, wirkt vielleicht auch arrogant auf die Vorbeigehenden, von denen ich nicht einmal weiß, ob sie mich
überhaupt wahrnehmen.
Wenn ich morgens auf dem Weg zur Uni den vielen Menschen begegne, die weder glücklich noch erfüllt wirken, möchte ich einige am liebsten anhalten und ihnen ein Lächeln ins Gesicht malen. Ein hoffnungsloser Traum. Ich könnte mit ihnen reden – wahrscheinlich würden sie abweisend reagieren oder mich unverständig anschauen aus ihren seltsam weiten Augen, Blicken, die den Betrachter selbst in die Leere (der Seele) hineinzustürzen scheinen. Möchte gar nicht wissen, auf wieviele derer, die mich bewusst wahrnehmen, ich denselben Eindruck mache …
Die Straßenlampen, die im Teich zu versinken scheinen, und die verschwommenen Spiegel der Häuser und Bäume im Wasser – wie symbolisch mir das erscheint für das Leben in den Städten! Auf dem Land ist es schlimmer: nicht einmal Spiegel! Ich werde an mich denken, wenn ich jetzt nach Hause, soz., gehe.
Zum 1. April 1997 zog ich nach Bonn um, schrieb mich ein, wartete auf ein neues Leben. Und bekam es.
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Freitag, 29. August 2008
das rote buch (i)
marcel diel, 01:26h
Hamburg, Zimmer in der Eppendorfer Landstr. 112, 19.05.02:
Nun also Hamburg, wo ich bisher noch nicht war, sieht man einmal von der Durchreise auf dem Weg nach Sylt ab, und auch jetzt nur für 2 Tage. Dabei war mir diese Stadt noch vor der gestrigen Ankunft am Abend, die sich aufgrund des enormen Verkehrs auf den Straßen (Innenstadt gesperrt wegen des "G-Day") und unserer geringen Ortskenntnis schwierig genug gestaltete, bereits ein wenig verleidet. Hamburg, das ist für mich der Ort, wo zunächst J. und nun, wenn auch nur für kurze Zeit, V. hinzogen, wo B. und ihr Ex-Freund glückliche und weniger glückliche Tage verbracht haben, ja, ich kann sagen: J.s Flucht, V.s plötzlicher, fast abschiedsloser Aufbruch nach Norden, B.s Erinnerungen (positiv gegen die Stadt, negativ gegen ihre damalige Beziehung) gestalten mein Verhältnis zu diesem Ort schwierig, haben es geprägt, bevor ich mir (wie bei Berlin) ein eigenes Bild davon machen
konnte. Nun bin ich gespannt, auch angespannt im Hinblick auf den morgigen (heutigen eigentlich, denn es ist tiefe Nacht nun, 245 Uhr) Tag. Und was mich doch zuversichtlich stimmt: der Abend bei V., seine Wohnung im Riemenschneiderstieg besichtigt zu haben (ein kleines Reihenhaus, das große Ähnlichkeit mit dem von Brecht in Buckow bewohnten aufweist, aber vielleicht auch nur für mich), das Zusammensein mit lieben Menschen (C., M. und A., mit denen ich diese Reise angetreten habe, J., die morgen zu uns stoßen wird), und nun der Ausblick aus dem Fenster auf einen zwar kargen, doch rege bewohnten Hinterhof und vom 4. Stock aus über die Dächer dieses Stadtteils hinweg. "Es ist Zeit / wirklich Zeit." C.s "Blumen"-Zeilen hämmern in meinem Kopf und hallen wider in den Gewölben meines maßlos verwirrten innerlichen Befindens. Seltsamerweise kein Drang, aus dem Fenster zu springen, wie damals auf dem Aussichtsturm über den Schlachtfeldern vor Verdun. Längst bin ich nicht versöhnt mit mir, die Unruhe im Gegenteil wächst
wieder, ist noch nicht Angst, nur Verwirrung und widerwärtiges Gedankenspiel, das sich seine körperlichen Symptome zusammensucht und dort ansiedelt, wo sie mich am stärksten verunsichern. Ein großes Ungewisses ist in mir. Ich sollte schreiben, sollte entspannen, vielleicht eine weitere Therapie anstreben – doch in Wahrheit flüchte ich in mir ständig vor mir, getrieben, gehetzt von der Unruhe, die nichts anderes ist als die gesteigerte Erwartung auf Erfüllung meines Lebens. Wenn ich all meine Freunde hier vor mir sehe, möchte ich mich in jedem Einzelnen von ihnen verkriechen, ihn umarmen, küssen, öffnen, hineinschlüpfen, mich in ihm auflösen, nur um mir selbst zu entkommen. Es ist noch immer nicht wirklich gut, zu sein – aber hier zu sein, ist gut, trotz oder gerade wegen der Aufregung, die auf äußere Dinge verweist, auf die ich mich einlassen sollte. Und doch meine ich, überall den Verfall ausfindig machen zu können, den ich in mir austrage. Bin ich mir selbst nicht gewachsen?
Will ich es überhaupt sein? Ich merke nur: je mehr ich zu flüchten versuche, desto schneller hole ich mich ein, versetze mich in Unruhe, übe mich im Versagen und erachte es gleichsam als innere Notwendigkeit. (Auch wenn ich weiß: Ich kann nicht verrückt werden, ist es doch dieser Gedanke, der mich am meisten ängstigt.) Ich sollte schreiben, doch fühle ich viel zu stark, dass ich nicht wirklich etwas zu sagen habe. Und auch diese Worte wollen nicht leicht geschrieben sein. Zugleich weiß ich: Auch wenn ich ziellos bin, so doch nicht hoffnungslos. Mir geht es gut, solange ich zu tun habe, mir Aufgaben stelle und erledige, unter Spannung stehe, die sich löst, sobald ich ein Teil meines Solls erfüllt habe, solange ich überzeugt davon bin, nützlich zu sein.
Nun häufen sich um mich die Probleme der Anderen: […] – und schon wieder kündigt sich Wechsel an: Leute, die fortgehen
werden in nicht allzu langer Zeit, die Lücken hinterlassen werden, zweifellos, und meine eher hilflose, wenn auch versucht bemühte Haltung dem allen gegenüber. Nehme ich es ihnen übel, dass sie sich aus meinem Lebensumfeld entfernen? Sie meinen ja nicht mich persönlich, sondern ihr eigenes Weiterkommen. Und wohin will ich? Was will ich aus mir machen, wie mich gestalten? Immer dieselben Fragen, ich weiß …
Nun Hamburg, eine kleine Zwischenstation. Laute Musik im Hinterhof, wohltuend gegen die allzu satte Stille. M. wird sie nicht ertragen können, sich Ohrstöpsel verpassen, C. vielleicht wie ich wachliegen und gen Fenster lauschen und im Halbschlaf lächeln.* A. und V., die sich leise streiten werden oder wortlos, gleichfalls schlaflos nebeneinander liegen und die Stille (eine andere freilich) genauso wenig vertragen. Etwas muss und etwas wird passieren. Und ich morgen auf den Spuren der "Absoluten Giganten".
M. D.
19.05.02 (315 h)
* Wie sehr ich mir wünschte, er würde herüberkommen, mit mir gemeinsam hier zu sitzen und zu lauschen!
Das »Rote Buch« war ein zwischen dem 14. Januar 1997 und dem 20. September 2003 unregelmäßig geführtes Tage- und Notizbuch, dessen Einträge ich hier künftig als Teil der »begehbaren welt« in willkürlicher Reihenfolge wiedergeben werde. Weitere Erläuterungen folgen mit der Zeit.
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Donnerstag, 26. Juni 2008
toskanamente I
marcel diel, 12:16h
»M.D., 1975 im Westerwald geboren, lebt als freier Lektor und Autor in der Ost-Berliner Toskana (Treptow).«
das kruzifix hat seine eigene geschichte, sie wurde nur noch nicht geschrieben. links daneben mein lieblingsbild: »learning to fly« von Johan Potma, das, wie ich finde, das dasein als leser & lektor sehr treffend illustriert.
zum vergleich: vor eineinhalb jahren
hey, kids, where are you? nobody tells you what to do ...
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Samstag, 16. Februar 2008
Tagebuch | 15.02.2008
marcel diel, 19:06h
liebe gewohnheiten. die freitagstreffen mit H. und V., pendelnd zwischen »goldmarie« und »espressolounge« – wissen selbst nicht, warum wir nicht auch mal woanders hingehen. nachdem wir es tatsächlich eine ganze weile lang geschafft hatten, uns jeden freitag zu sehen, sind die treffen seit jahresanfang seltener geworden: mal hat H. einen interviewtermin, der sich nicht verschieben lässt, mal ich einen lektoratsauftrag, der mich das wochenende kostet, mal steckt V., der ohnehin zwölf stunden am tag im büro sitzt, bis über beide ohren in arbeit. alle drei sind wir selbständig, haben unsere sorgen damit und sind doch froh darum. wir prahlen ein wenig voreinander mit dem, was wir können und sind und was wir erreichen wollen. H. zieht es über kurz oder lang fort von hier; er kann diese stadt nicht mehr sehen, mag ihre menschen nicht mehr ertragen, erst vor kurzem hat er sich noch bitter amüsiert über einen zeit-essay zum »bionade-biedermeier« im prenzlberg, der ihn in seiner zunehmend zynischen haltung nur bestärkt. was im übrigen auch auf mich zutrifft. diese uniformität des gewollten andersseins, die einem hier ständig begegnet, geht mir ganz gehörig auf den geist. mein treptow, ick lobe dir, du unhippe trutzburg der unveränderlichkeit. mein bochum des ostens, oder (mayröckerlike:) mein arbeitstirol. und so etwa ratschen wir waschweiber von kreuzberg uns auch ins wochenend, milchkaffeeschaum vorm mund, dass es nur so spritzt und ein Ralph Morgenstern seine wahre freude an uns hätte. sind wir ausgetalkt, geht jeder wieder seiner wege, ohne liebesschwüre und ohne viel privates miteinander gesprochen zu haben. es könnte leichter nicht sein, kurzweiliger kaum, ich atme befreit und weiß: jetzt ist wochenende.
aber jede leichtigkeit rächt sich – wenn nicht durch müdigkeit oder kopfschmerzen, dann spätestens durch die lieben anonymen mitmenschen. manchmal reicht schon ein blick, mich mitten im schwung aufzuhalten, mich auf meinen vermeintlichen platz zu verweisen. und dieses mal war es der spruch eines sechzehnjährigen platzhirschs in der brechend vollen u-eins, na immerhin hat er mich gesiezt: »Sie stoßen mich die ganze zeit mit Ihrem bauch an.« – »ja«, erwiderte ich so gelangweilt wie möglich, »das kann vorkommen.« – »das ist aber belästigung. Sie belästigen mich, wissen Sie das?« – und sein kollege (allein trauen sich diese typen ja nicht), gleichalt und genauso borniert: »Sie könnten auch mal abnehmen, ne?« – wie fast allen, die schon mal in einer vergleichbaren situation waren, fiel auch mir nichts passendes, vor allem nichts treffendes ein, das ich hätte entgegnen können. ich weiß, es sind kinder, und gemessen an dem, was ich mir im laufe der jahre schon alles an beleidigungen über mein äußeres anhören musste (besonders von kindern und klein gebliebenen erwachsenen), waren diese hier wirklich harmlos. aber wie sehr wünsche ich mir, manchmal einfach meine beherrschung, die ja nichts anderes ist als ein tief empfundenes ohnmachtsgefühl, verlieren zu können. vermutlich hätte es schon gereicht, mich einfach nur aufzuplustern und finster dreinzuschauen (ein ein meter neunzig großer, hundertfünfzig kilo schwerer kerl macht an sich ja schon was her).
ich kann nämlich auch böse
(es glaubt mir nur keiner)
(es glaubt mir nur keiner)
aber ich habe den gleichgültigen gemimt, und es war ein glück, dass die bahn so voll war und ich kurz darauf schon aussteigen musste. trotzdem, der tag war gelaufen. ich stand an der bushaltestelle, und von minute zu minute mächtiger wuchs in mir die wut: auf diese zwei pisser, denen ich das freche grinsen nur zu gern aus der visage gebügelt hätte, und auf mich selbst, der ich solche gewaltphantasien mit mir herumtrage, obwohl ich den beiden intellektuell weit überlegen bin. so stapfte ich erst ein wenig hin und her, und als das nicht helfen wollte, machte ich mich zu fuß auf den weg nach hause. drei, vier kilometer halbwegs schnellen schrittes zu gehen, hilft durchaus. am treptower park angekommen, war von meiner wut nurmehr traurigkeit übrig. erleichtert darüber, keinem menschen mehr begegnen, nicht noch mehr blicke auf mir spüren zu müssen, ging ich von baum zu baum, betastete, las die rinden mit der zärtlichkeit eines autisten.
die natur ist ein ungeheurer trost, wenn es die menschen nicht sind. schon als ich den park zum ersten mal sah, wusste ich, dass dies mein ort sein würde in dieser stadt, so wie es in bonn die poppelsdorfer allee gewesen ist. mein ort, auch wenn ich nicht täglich dort bin, nicht stundenlang dort herumwandle, etwas, das verlässlich da ist und dort bleibt und, ein vielleicht nicht ganz unwesentlicher gedanke, sich nicht gegen meine anwesenheit wehren kann. ein anderer trost ist musik: ich singe laut mit, und da ich nicht vorhabe, mich bei DSDS zu bewerben, ist es mir herzlich egal, ob es schön oder schief klingt. manchmal spreche ich auch gedichte dazu oder rede mich selbst von der palme runter. das alles geht freilich nur, wenn ich allein bin, und fällt in diesem fall flach, weil ich zur zeit besuch habe: ein jüngelchen aus wiesbaden, das ein freund mir ins nest oder besser ins nebenzimmer gelegt hat. nein, ich will nicht zu abfällifg von ihm sprechen. es wäre falsch, meine wut auf ihn zu übertragen, zumal er sich sehr anständig verhält und ich ihm einige gute warme mahlzeiten zu verdanken habe. er bemüht sich, kein allzu großes hindernis zu sein, aber es nervt bisweilen, in den eigenen vier wänden nicht allein sein zu können, besonders jetzt. der junge mann ist auf wohnungs- und jobsuche hier im erlösungsmoloch, wie ein freund diese stadt mal sehr treffend genannt hat, und im moment hat es den anschein, dass die ursprünglich verabredeten zwei wochen, für die er bei mir einquartiert sein sollte, dafür nicht reichen werden. ich bin nicht der mensch, der einen anderen einfach vor die tür setzen kann. aber vielleicht kommt mir die natur zuhilfe. das zimmer, das er bewohnt, ist nämlich nicht beheizt, weshalb ich es sonst auch nur als abstellraum nutze, und in den letzten tagen ist es empfindlich kalt geworden. er schnieft schon ganz ordentlich. wie gesagt: die natur ist ein trost.
aber musik hören, so wie ich mir das wünsche, kann ich jetzt trotzdem nicht. ohnehin sollte ich eigentlich arbeiten. stattdessen blättere ich in alten unterlagen – und finde das hier:
[artikel aus der westerwälder zeitung, regionalausgabe der rhein-zeitung,
vom 27. januar 1999 :: vollständige ansicht nach dem klick]
vom 27. januar 1999 :: vollständige ansicht nach dem klick]
dazu wäre weißgott viel zu sagen. aber das ist eine ganz andere geschichte
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Freitag, 25. Januar 2008
Tagebuch | 22./25.01.2008
marcel diel, 15:47h
die meisten tage stolpern so dahin, immerhin: sie bewegen sich. zur ausübung meines berufs bedarf es eines schreibtischs, eines computers mit internetanschluss und ruhe, wenn auch nicht unbedingt einsamkeit. das ist nicht immer schön und tut auch nicht immer gut. ich rauche zuviel, verbummle zuviel zeit mit unwichtigem oder damit, zu überlegen, was wichtig ist, ohne mir diese frage letztlich beantworten zu können. ich schlafe zu tief und zu lang, aber das erst seit ein paar tagen. pflege die vage hoffnung, dass die zeit dort draußen einfach stehen bleiben und es letztlich auch reichen könnte, sich nur im geiste voranzubewegen. weiß, dass das nicht reicht.
mein verstand ist wach, ständig. deshalb irritieren mich träume von riesigen insekten (und das ist keine Kafka-anspielung) und verunsichern mich solche ›diskussionen‹, wie sie momentan um »gewalttätige jugendliche mit migrationshintergrund« geführt werden. mitunter sehe ich überall die hässliche fratze des faschismus. Biermann meinte mal (sinngemäß), man solle vorsichtig sein mit der anwendung dieses begriffes, damit er nicht seine bedeutung verliere und nicht mehr greife, wenn der ›echte‹ faschismus wieder vor der tür stehe. ich bin vorsichtig, aber je vorsichtiger ich werde, desto deutlicher sehe ich diese fratze vor mir, so deutlich, dass ich mich frage, warum nicht viel mehr leute, kluge leute, aufschreien, wenn in diesem land wieder einmal über »sicherheit vor freiheit« gefaselt und über neue möglichkeiten nachgedacht wird, die rechte der bürger einzuschränken.
es ist schwierig, im angesicht des unrechts nicht selbst ungerecht zu werden. wie ein mantra bete ich mir (guter katholik, der ich war) immer wieder vor:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeitmuss man, um ›den boden für freundlichkeit zu bereiten‹, selbst unfreundlich werden? und wenn ja, in welchem maß?
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser.
vielleicht sind die zeiten aber auch gar nicht so finster, wie ich sie mir einrede. vielleicht sind nur meine augen lichtempfindlicher geworden. – »da hilft nur, aufzustehn und mal was andres sehn ...« – wir befinden uns in einem kabarett, berlin im spätsommer 1929. auf der bühne Kurt Gerron, theresienstadt ist noch weit, am klavier Rudolf Nelson, das publikum, einem bild von George Grosz entsprungen, kreischt vor lachen. um schlag zwölf werden sie sich alle wieder in mäuse verwandeln, sie wissen es nur noch nicht. bis dahin wird getanzt und getrunken, geraucht und geflirtet, während sich die stadt, ganz langsam, aber merklich dem verfall entgegendreht. – »da hilft nur, aufzustehn und mal was andres sehn ...« – vor ein paar tagen habe ich zufällig eine kneipe entdeckt, die tatsächlich zum »raucherlokal« deklariert war: ein unscheinbarer irish pub am landwehrkanal, aber, wie sich – leider erst am ende, als der wirt, wohl neue stammkundschaft witternd, mir und meinem begleiter eine kleine führung anbot – herausstellte, mit einem dart- und einem billardzimmer bestens ausgestattet. M. und ich hatten ein paar stunden dort zugebracht, ein paar bier getrunken, geredet, es war erholsam, endlich auf andere gedanken zu kommen, oder besser gesagt: auf die gedanken eines anderen.
M. steht vor einer entscheidung: soll er's wagen, sich eine existenz als freier autor aufzubauen? ›freier autor‹, das klingt ebenso aufregend wie unbestimmt: sein eigener herr sein und sein brot mit schreiben verdienen – nur wie man das macht, weiß keiner so genau, und um ein risiko scheuen oder eingehen zu können, muss man es natürlich erst einmal kennen. als ich noch in den autorenverbänden meines heimatbundeslandes aktiv war, habe ich einige gestalten getroffen, die sich als freiberufler angemeldet hatten, nur weil sie in irgendeinem klein- oder gar im selbstverlag mal ein bändchen veröffentlicht hatten und nun auf den großen geldsegen warteten. ihnen allen war gemeinsam, dass sie sich verkannt fühlten und böse mechanismen am werk sahen, die ihnen den weg zum ruhm verwehrten. was man auch dagegen einwandte, immer waren die ominösen ›anderen‹ schuld an der misere: der verlag, der sich nicht genug um die vermarktung kümmere, der lektor, der ein manuskript abgelehnt habe, obwohl es doch mindestens »ein zweiter ›Ulysses‹« (ausgerechnet!) sei, der redakteur, der einem ein wenig leichtsinnig erzählt hatte, dass er selbstverlegte bücher prinzipiell nicht rezensiere, und schließlich wir, die ehrenamtlichen ›funktionäre‹, die ihm noch nicht einmal eine lesung verschafften. nur die qualität der eigenen texte war natürlich über jeden zweifel erhaben, und sich selbst etwas mehr engagieren? »ja, wozu gibt es denn euch!«
auf M. trifft das zum glück nicht zu. er ist realist genug, zu wissen, dass man höchst selten ›entdeckt‹ wird, wenn man nur zu hause rumhockt und sich nicht selbst von der stelle bewegt (sieh an, ein bogen zum anfang dieses eintrags! ts!). es ist eben so: die, die einen entdecken sollen, muss man erst selbst entdecken, man muss ihnen ein stück entgegenkommen, und das ist oft mühsam, zeitaufwendig, mitunter auch frustrierend. »aber weißt du, was mich persönlich am meisten frustriert hat?«, sagte ich zu M. »das waren die popliteraten. diese plötzliche schwemme an jungen autoren, die zum teil auch noch jünger waren und so ganz anders schrieben als ich und damit erfolge feierten. da wusste ich, dass ich in diesem theater nicht mitspielen kann.« auch so eine schutzbehauptung. dass jemand erfolg hat, sagt allein ja noch gar nichts aus. immerhin haben uns nicht zuletzt die popliteraten der 90er gezeigt, dass es weniger auf die literarische qualität ankommt als vielmehr darauf, dass das ›package‹ stimmt: autor und text zusammen müssen authentisch wirken, ›credibility‹ ist gefragt und ist das, was letztlich vermarktet wird. trifft natürlich nicht auf alle fälle zu. die kunst ist allerdings erst einmal, dahin zu kommen, dass man vermarktet wird, also: entdeckt zu werden. und wenn man ›gut ist‹ und kritikfähig, dann lohnt sich das wagnis, at least: man lernt eine menge dabei. sagt der, der es selbst nie ernsthaft versucht hat.
die meisten tage stolpern so dahin. ich rauche zuviel, verbummle zuviel zeit mit unwichtigem, ich schlafe zu tief und zu lang, träume von riesigen insekten. pflege hoffnungen. weiß, dass das nicht reicht. immerhin: mein verstand ist wach
filmchen gefällig?
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Montag, 21. Januar 2008
Tagebuch | 20.01.2008
marcel diel, 13:07h
C. kommt nach berlin, und das ist eine wirklich gute nachricht. wir trafen uns gestern am potsdamer platz, wo die dichter ihre jurten aufgeschlagen hatten. zum ersten mal war ich Sony dankbar für das monströse glasdach, das sie über dem center aufgespannt haben: auch was uns bedrückt, kann uns mitunter schützen, damit wir nicht im regen stehen, und der »prasselte« gestern »unaufhörlich hernieder« – ein richtiges ungarnwetter.
am bücherstand in jurte 2 trafen wir K., der gerade eine lesung hinter sich gebracht hatte und, wie er sagte, »hundemüde« war. »the drugs don't work.« wo er sie denn gelassen habe, die drogen, und warum er ihn nicht daran teilhaben lasse, wollte C. wissen, aber K. murmelte nur etwas von »ins bett jetzt, schlafen« und schaute traurig aus seinen weit geschlossenen augen (that's way too much). blieb dann doch noch eine viertelstunde, kaute erdnüsse, fragte mich beiläufig, was ich »denn so« machte, vergaß es im selben augenblick, unterhielt die buchhändler mehr durch sein gebaren als sich mit ihnen, ein kurioser zwerg, aber »großartig«, wie C. mir versicherte. ja, die jurten seien echt mongolisch-nomadisch, versicherte uns einer der händler, vor allem im sommer, wenn es heiß sei, könne man noch das schafsfett riechen, das die fellverkleidung drinnen ausdünstete, und C. landete den lacher des nachmittags mit seiner frage, ob die zelte denn durch das ständige auf- und abbauen keinen schaden nähmen, als wären sie nicht genau zu diesem zweck bestimmt.
K., fraglos ein großstadtnomade, ging schlafen und wir auf die suche nach einem café. fanden eins am gendarmenmarkt, dem mehr besuch gut getan hätte und das man guten gewissens kaum weiterempfehlen kann (insgeheim fluchte ich darüber, ein dreivierteljahr lang hier zu wohnen und noch immer die cafészene nicht einmal ansatzweise zu kennen). C. erzählte überm milchkaffee, dass er sich nun mit A. auf die konditionen ihrer zusammenarbeit geeinigt hätte. viel käme für ihn dabei nicht rum, aber es würde reichen, um sich ein zimmer zu nehmen und das kostspielige hin- und herpendeln zu finanzieren. wenn alles glatt ginge, werde er ab ende februar immer für zwei wochen pro monat in berlin sein. stellte mir dann eine textaufgabe: wörter, die eine andere bedeutung annehmen, wenn man nur einen buchstaben streicht, aber außer einem lahmen »bengel« wollte mir nichts einfallen. freute mich dafür ausgiebig darüber, dass die sache nun entschieden sei und er den schritt zum leben an zwei orten wagen wolle, und C. teilte freundschaftlich seinen cookie mit mir, legte dann noch einen amarettino nach.
als ich später durch den park zurückging, es regnete nur noch leicht und war schon dunkel, fiel mir – es muss an den anfangsbuchstaben liegen – Camus wieder ein, und ich wusste, es konnte kein besseres motto für den roman geben, den ich seit jahren in mir herumtrage und der nun danach drängt, geschrieben zu werden. zuhause angekommen, nahm ich den roten gleich mit auf die toilette, blätterte und fand, während ich mich des tages entledigte, die stelle, die ich gemeint hatte, beinah auf anhieb:
»Da hat er mich gefragt, ob mich eine Änderung in meinem Leben nicht reizen würde. Ich habe geantwortet, daß man sein Leben nie änderte, daß eins so gut wie das andere wäre und daß mein Leben hier mir keineswegs mißfiele. Er hat ein unzufriedenes Gesicht gemacht, hat gesagt, ich würde immer ausweichend antworten, ich hätte keinen Ehrgeiz, und das wäre im Geschäftsleben katastrophal. Ich bin dann wieder an meine Arbeit gegangen. Es wäre mir lieber gewesen, ihm keinen Anlaß zur Unzufriedenheit zu geben, aber ich sah keinen Grund, mein Leben zu ändern. Wenn ich recht darüber nachdachte, war ich nicht unglücklich. Als ich studierte, hatte ich viele derartige Ambitionen. Aber als ich mein Studium aufgeben mußte, ist mir sehr schnell klargeworden, daß das alles ohne wirklichen Belang ist.«
Albert Camus: Der Fremde. Roman. In neuer Übersetzung von Uli Aumüller. Reinbek: Rowohlt, 502000, S. 52.
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